Mittwoch, 31. Dezember 2014

Die Hengstberg-Challenge - (k)ein Kinderspiel!

Eine kleine, irgendwie wehmütige Nachbetrachtung zu einem - ja, wie soll man das eigentlich nennen? - Vorgang? - Ereignis? - Phänomen?, das sich im Laufe des Jahres 2014, genau genommen zwischen dem 8.12.2013 und dem 07.12.2014 (denn so merkwürdig fällt das Hengstberg-Challenge-Jahr!) in den Wäldern östlich von Göttingen vollzog:

Die "1. Hengstberg-Challenge" (im Folgenden kurz: "HBC")

der Berg der Berge
Es fängt damit an, dass ich nichts Genaues zur Entstehungsgeschichte der HBC sagen kann. Auf einmal war sie da, und jeder und jede LäuferIn in Gö und Umgebung redete darüber. Der Hengstberg ist ein recht markanter, gut 400m hoher Hügel östlich des Steilabfalls des Göttinger Waldes, ein "Zeugenberg" im geographischen Sprachgebrauch, der davon zeugt, dass die Muschelkalkfläche, die den Göttinger Wald bildet, früher weiter nach Osten reichte und auch den heutigen Hengstberg umfasste. Aber dieser Umstand war nun gewiss nicht der Grund für das Ausrufen der HBC. Nein, das lag schon eher daran, dass dort oben ein rustikales Gipfelkreuz samt Gipfelbuch von der DAV-Sektion des nahegelegenen Dörfchens Potzwenden errichtet wurde. Und damit die Voraussetzung gegeben ist, Besteigungen für die Nachwelt dokumentieren zu können. Die HBC besteht also darin, im Verlauf dieses merkwürdigen HBC-Jahres möglichst oft den Berg zu erklimmen und sich jeweils ins Gipfelbuch einzutragen.

Nur knapp 2km westlich des Berges führt eine Landstraße vorbei, die über einen überaus praktisch gelegenen Wanderparkplatz verfügt. Von dort aus wäre die Besteigung in weit unter 5km Strecke und mit nur ca. 120 Höhenmetern möglich und damit natürlich ein Kinderspiel. Nein, so etwas sollte es nicht sein (oder eigentlich eben doch?), und es entsteht, wiederum etwas nebulös wie die HBC selbst, ein Regelwerk, das im Kern besagt, dass nur Besteigungen, die vom Göttinger Stadtgebiet aus starten, in die Wertung kommen können. Damit sind das Kehr (Startpunkt der Brocken-Challenge), Geismar oder Herberhausen die nächstgelegenen Startpunkte. Insbesondere Bewohner von Herberhausen genießen den Vorteil, in nur ca. 16km und mit nur ??? aufsteigenden hm eine zählende Besteigung absolvieren zu können. Für alle anderen heißt es stets: Allermindestens sind 18km und ca. 450hm zu bewältigen. Gut, damit begnügen sich die meisten Teilnehmer dann nur im Notfall, und gängige HBC-Läufe haben mehr als 23km und ca. 600hm aufzuweisen. Also nichts für jeden Tag. Sondern höchstens für jeden zweiten.

Die Gipfelbuch-Einträge landen häufig, noch ehe die Tinte richtig trocken ist, auf den entsprechenden facebook-Seiten. Mit den Wochen und Monaten, die ins Land gehen, wird die Sprache dabei (genau wie die Landschaft) immer blumiger. Das liegt manchmal vielleicht auch an dem obligatorischen Gipfel-Schnaps. Im 1. HBC-Jahr folgt Gin auf Grappa und Kräuterlikör. Es werden die Auf- und Abstiegsrouten und besondere Vorkommnisse geschildert. Da ist aber nicht einfach von West- oder Osthang, sondern von "Lhotse-" und "Diamir-Flanke" die Rede. Gelegentlich herrscht extreme "Lawinengefahr" und manch einer schwört, die Tour kein zweites Mal ohne künstlichen Sauerstoff zu wagen. Später sammeln sich außerdem Energie-Riegel, Weihnachtsmänner und andere Notrationen in der Schatulle des Gipfelbuchs an. Man überlegt, die morsche Gartenbank durch eine anständige Schutzhütte zu ersetzen und die Gipfelhöhe durch Aufbringen von Kalkschutt nach und nach weiter zu erhöhen. Im Spätsommer ergeht eine recht folgenschwere Beschwerde eines Mitstreiters, dass man die Aufstiege doch bitte mal von den Spinnweben und dem aufkommenden Jungwuchs befreien möge. Spätestens damit entbrennt die große finale Herbst-Rallye, in der erbittert um die Ränge gekämpft wird und sich ein Damen-Team in der letzten Wertungswoche noch geschlagene 5 Mal erfolgreich auf den Weg macht (auch wenn der Verdacht naheliegt, dass abschnittsweise Support durch den kräftig ziehenden Hund erfolgte - eine zukünftig noch zu schließende Lücke im Regelwerk).

Nur recht selten mischen sich Einträge von Wanderern zwischen die HBC-Notizen. Das liegt natürlich daran, dass der Gipfel trotz aller Bemühungen nicht wirklich bewirtschaftet ist, (besonders im Sommer) nur mäßige Aussicht bietet und vor allem nur über steile, meist matschige, zeckenverseuchte Pfade zu erreichen ist. Hier müssen wir noch einmal kurz auf die geologischen Verhältnisse zurückkommen: Wehe dem, der nichts vom Übergang des Unteren Muschelkalks (eher griffig) zum Oberen Buntsandstein (Röt-Tone) knapp oberhalb des Wandfusses weiß! Der donnert mit hoher Wahrscheinlichkeit wohlgemut den Steilhang der Lhotse-Flanke hinunter und landet dann ziemlich sicher einigermaßen glimpflich im Buchen-Jungwuchs, nachdem er die Haftung und/oder den Boden unter den Füßen verloren hat.

Oft, wenn wir im Herbst bei Regen und Wind im Dunklen da hoch sind, haben wir uns unterwegs gefragt: Warum machen wir das? Wie soll man das einem "normalen" Menschen erklären? Die Antwort darauf ist am Ende wahrscheinlich ganz einfach: Es gibt keinen Grund, außer dass es Spaß macht. Und irgendwie kindisch ist. Wir alle wollen gerne zwischendurch auch mal wieder spielen dürfen, sinnbefreit rumfantasieren, etwas tun, ohne dass dieses Tun wie sonst üblich einem Ziel oder Zweck folgt (außer, man startet eine ausgewachsene Such-Expedition nach einer zuvor von einem Konkurrenten (="Mit-Läufer") verlorenen Stirnlampe). Es macht Spaß, den Jahresgang der Natur auf der immer gleichen Strecke zu verfolgen. Was für ein Jahr! Gänseblümchen im Januar, Storchenschnabel im Dezember! Der dicke Ast lag vorgestern doch noch nicht da!? - Es macht Spaß, die wilden Rutsch-Spuren der letzten Vorkämpfer zu sehen und sich vorzustellen, wie sie geflucht haben. Es macht Spaß,"unangemeldet" hochzurennen und zu hoffen, mal der erste an diesem Tag zu sein, vielleicht legt man sogar die erste Spur in den Neuschnee, und man freut sich schon, weil es tatsächlich so ist, und wenn man dann am Gipfel ankommt, schnauft von der anderen Seite gerade ein anderer hoch.

Eigentlich hatte ich noch eine große Datenauswertung zur 1. HBC geplant. Leider konnten oder wollten nicht alle Beteiligten die erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen. Mich hätte z.B. interessiert, an welchem Tag die meisten Leute oben waren oder wann die längste Periode ohne Besteigung war, etc. So wissen wir nur, dass sich an der 1. HBC offiziell 18 Menschen und 1 Hund durch Eintrag ins Gipfelbuch unsterblich gemacht haben (noch ein ungeschriebener Paragraph aus dem Regelwerk: Die Mindest-Besteigungszahl, um in die Wertung zu kommen, beträgt 2!). Die Gesamtzahl der Gipfelbucheinträge beläuft sich letztlich auf 254, was im Schnitt gut 13 Besteigungen pro TeilnehmerIn bedeutet. Die Streuung liegt dabei zwischen 40 und 2. Am 07.12.2014, dem letzten Wertungstag der 1. HBC, waren alle Teilnehmer bis auf 3 auf dem Gipfel versammelt!



Ich gehe jede Wette ein, dass die 2. HBC neue Teilnehmer- und Besteigungsrekorde erbringen wird. Ganz dringend muss ein neues Gipfelbuch raufgeschafft werden! Aber kann die 2. HBC jemals wieder wie die 1. sein?



Sonntag, 14. Dezember 2014

Warum schickst Du mich in die Hölle?*

* Dank an Martin W. für die Steilvorlage!

Wie konnte Wolfgang Petry nur schon in den frühen 80ern ahnen, dass es dereinst den Lauf zum Lied geben würde?

Die gewohnte Beschreibung der Anfahrt erübrigt sich diesmal wohl, es geht ja schon zum 2. Mal in diesem Jahr nach Fröttstädt. Obwohl, wenn man genauer drüber nachdenkt … Damals, Anfang Juli, waren es 32°C, diesmal sind es 2°, damals war es hell und freundlich und der Thüringer Wald mit dem Inselsberg grüßte herüber, diesmal erkennt man nur am strahlenden McDonalds-Werbeturm, dass man die Abfahrt Waltershausen erreicht hat und ist froh, unterwegs nicht vom Sturm von den Brücken geblasen worden zu sein. Und für die Pinkelpausen auf der gut einstündigen Fahrt sorgt diesmal nicht Sanna (ist ja auch nicht dabei), sondern ich selbst. Muss irgendwie an der Beifahrer-Rolle liegen, denn mein Chauffeur ist Jan.

Auf dem Island-Pferdehof (die Ponys kommen aus Shetland!) der Familie Rothe, deren selbstloses Wirken im Dienste des Ultra-Laufsports natürlich auch mit meinem Sommer-Besuch zusammenhing, beziehen wir ein rustikales Zimmer mit Fachwerk-Lehm-Wandheizung im vollsanierten ehemaligen Vierseithof aus dem 17. Jahrhundert. Der Andrang zum Jägerstein-Ultra ist so groß, dass die Rothes sogar ihre Privatgemächer zur Verfügung stellen und alle verfügbaren Unterkünfte in der näheren Nachbarschaft belegt werden. Zum Abendessen geht es aufgrund der Teilnehmerzahl (offiziell: 39) dann auch in das wohlbekannte Dorfgemeinschaftshaus um die Ecke. Neben der kniffligen Frage, welche der 3 Nudel-Soßen denn nun die vegetarische sei, treibt uns natürlich vor allem die Wetterprognose um: Wird der Sturm wirklich aufhören? Wird es wirklich den ganzen Tag durchregnen oder haben wir Aussicht auf Schneefall wenigstens in den höheren Lagen? Diese Fragen werden souverän beleuchtet, genauso wie knifflige Punkte der Strecke anhand von projizierten Fotos. Ich muss sagen: dieses briefing hat wirklich seinen Namen verdient! Es war brief, nämlich kurz und bündig, und umfasste dennoch alle erforderlichen, wichtigen Infos. Einige Streckenpunkte erkannte ich dann tatsächlich in natura wieder und wusste so trotz gerade mal wieder streikendem Garmin, dass es doch noch etwas höher an diesem infernalischen Skihang gehen musste, bevor wir uns abschließend der Hölle zuwenden durften (die Veranstalter legen Wert auf die Feststellung, dass dies eine tradierte Bezeichnung für einen gewissen Streckenabschnitt sei und nichts weiter mit dem Lauf zu tun habe).

Wir sind ganz vernünftig und liegen vor 22 Uhr in der Falle. Start ist in 2 Gruppen um 6 und 7 Uhr. Es gilt, ca. 70km mit gut 2.300 Höhenmetern im Anstieg ohne Markierung, also nach GPS-Track-Navigation, zu bewältigen. Fröttstädt liegt genau auf 300m, das Ziel ist der Jägerstein auf dem Gipfel des Schneekopfes (978m). Übernachtet wird dann in der Schmücke, einem vom Rennsteiglauf her bekannten Gasthof knapp 2km entfernt. Wer sich diese Daten und den Termin anschaut, stellt schnell fest, dass sich der Jägerstein-Ultra nahezu perfekt als Trainingslauf für die Brocken-Challenge eignet und deren Anforderungen teilweise noch übertrifft. So denken wohl auch Andere und so kommt es, dass sich hier letztlich 10% der TeilnehmerInnen der BC2015 ein Stelldichein geben und damit gut 40% des Feldes ausmachen. (Anmerkung: Dieser Begriff „Trainingslauf“ könnte für den einen oder anderen einen abfälligen Beiklang haben, nach dem Motto „eigentlich interessiert der mich gar nicht wirklich, es geht mir um etwas anderes.“ Nein, so ist das nicht gemeint. Ich laufe den Jägerstein primär, um den Jägerstein zu laufen! Gleichwohl wird hoffentlich ein Trainingseffekt unausweichlich bleiben!).

Die 6-Uhr-Gruppe am Start, Foto: Martin Woitynek



Ich wache um 3:35h auf, gucke um 4:28h wieder auf die Uhr und komme dem Wecker, der um 4:30h gebimmelt hätte, zuvor. Keine Gnade: Licht an! „Das war’s, Leute!“ Weitgehend haben wir unsere Laufrucksäcke, die drop bags, die Zieltasche und was direkt wieder ins Auto kann natürlich schon am Vorabend gepackt. Was für ein Aufriss jedes Mal! Fenster auf. Draußen ist es wie vorhergesagt tatsächlich fast windstill. Es regnet leicht vor sich hin. Also keine Notwendigkeit, die Planungen von gestern umzuwerfen. Es ist schon irre: 6 Jahre bin ich beim Laufen prima ohne eine echte Regenjacke klar gekommen, dieses Jahr nimmt sie eine zentrale Rolle ein, ich erinnere nur an APUT oder Karwendelmarsch und unzählige nasse Trainings. Auch heute das wichtigste Kleidungsstück (neben den Schuhen und der Lampe) – und dem Garmin! Ja, ohne (funktionierendes) GPS ist man heute definitiv verloren – und auch das Laufen in der Gruppe ist keine totale Absicherung, denn immer wieder setzen die Geräte, egal welches Fabrikat, phasenweise aus bzw. „verlieren“ den track (was auch immer dahinter stecken mag, man sieht dann nur noch seine Position, aber nicht mehr, wohin es gehen soll. Scheiß-Gefühl, stünde man dann allein im Regen im finsteren Wald).

Vor diesem Hintergrund ist die Performance des späteren Schnellsten, mit dem ich immerhin die Initialien teile und der sich schon nach 100m vom Feld absetzt und sich mutterseelenallein auf die Reise macht, umso beeindruckender. Wir (als uhrzeitlich erste Verfolgergruppe) hatten über lange Strecken im Schnee seine furchterregenden Spuren (Schuhgröße 50, Schrittlänge 3,24m) als Orientierung vor uns und akzeptierten sie ggf. einfach als „Ersatz-Track“ (das fiel uns immer erst dann richtig auf, wenn der Schnee mal wieder fehlte und wir selbst navigieren mussten). Spannend wäre zu wissen, wie oft man an so einem Tag auf das GPS glotzt. Vielleicht 1000 Mal? Nicht gänzlich unwahrscheinlich, das wären noch nicht einmal 2mal pro Minute. Informationen, die sonst im Vordergrund stehen (pace [hahaha], gelaufene Kilometer etc.), treten komplett in den Hintergrund und werden erst wieder auf den letzten paar Kilometern interessant ("Sind wir bald da?" - "Schaffen wir die letzten 6km in unter 1:20h, um unter 10h zu bleiben?" [Antwort: Nicht mal annähernd, vgl. u.]). Aber dann muss man erstmal jemanden finden, der noch bereit ist, seine Uhr entsprechend zu befummeln. Viel zu anstrengend!

Die Strecke gliedert sich grob in 3 Drittel, was einfach daran liegt, dass es 2 VPs gibt. Oh Mann, wie kann man sich nur freiwillig bei dieser Kälte stundenlang da in den Regen stellen? Nicht mal die Hirsche im Gehege am VP1 bei km26 trauen sich raus! Joachim und Gunter tun es trotzdem und grinsen noch dabei. Sensationell! Dass es wirklich ununterbrochen regnet, registriere ich eigentlich nur an den VPs, weil da das Laufgeraschel in der Kapuze aufhört und man das Tröpfeln auf dem Kopf spürt. Speziell am VP2 nach gut 48km, wo es in 700m Höhe im Schneematsch auf dem leeren Parkplatz an der Wegscheide 3km nördlich von Oberhof doch recht schattig ist, frage ich mich, was wohl ein „normaler Mensch“ denken würde, der uns hier sieht. Buchstäblich das vielzitierte Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt (außer den einen offenbar, der heute eine Teilnehmerin begleitet).

am Tor-Stein, km 32 (courtesy André Hall)
Unsere Gruppe schmilzt von 7 Leuten bis ca. km35 (nach dem markanten Tor-Stein [so etwas wie Arches N.P. im Kleinen]) über 4 Mann bis km50 auf die bekannten 2 nerds zusammen. Denn als mal wieder kein Schnee liegt (vgl. Ausführung über Spuren-Tracking oben) und der noch in Sichtweite liegende Dritte aufgrund einer Verdauungsstörung eines der zwei verbliebenen Vegetarier (vermutete Folgewirkung des vorabendlichen Schweine-Tofus) enteilen kann, verlaufen wir uns prompt erstmal an den ruhigen Gestaden der Lütsche-Talsperre, wo auf einem Camping-Platz eine enorme Zahl von Wohnwagen tapfer gegen das Verschimmeln ankämpft. Der Fehler ist einigermaßen schnell erkannt und behoben, kostet aber wohl ein paar Minuten, die wir bis zum (bitteren) Ende nicht mehr aufholen.

am Silbergraben, km 42-45, Foto: Eckhardt Seher
Es ist einfach immer wieder erstaunlich bis unglaublich, was diese denkwürdige Apparatur, die sich Körper nennt, und insbesondere die Beine daran, so auszuhalten in der Lage ist. Geschlagene 5km geht es nach dem Zwischenhoch bei km40 von 820m zwar stetig bergab durch das Tal des Silbergrabens, aber „Weg“ oder trail darf man das eigentlich nicht nennen. Es ist eine Art Mini-Schneise oder Terrasse oberhalb des Bachlaufs, die ich eigentlich auch ohne Schnee weder rennen noch wandern möchte. Hier ist jeder Schritt ein Tritt ins Ungewisse, der aber wieder und wieder von diesen Fußgelenken angenommen und aufgefangen wird, allerdings unterstützt durch die Laufstöcke an den Armen, die hier Gold wert sind. Ich überlege, wie viele Schritte der modernste Roboter hier wohl hinkriegen würde, ohne zappelnd auf dem Rücken zu landen. Gott sei Dank hat der Sturm gestern wenigstens ein paar Bäume umgelegt, sodass auch der Rumpf regelmäßig beim DrunterDurchkriechen geschmeidig gehalten wird. Begleitet wird dieser Abschnitt von regelmäßigen Flüchen, wenn doch wieder jemand voll in einem unter dem Schnee versteckten Wasserloch gelandet ist und das inzwischen bekannte Spiel von vorn beginnt: Langsames Erwärmen der nassen Lappen um die Füße, langsame Rückkehr des Gefühls in die abgestorbenen Zehen, und dann wieder: platsch! Wir fachsimpeln darüber, ob es etwas wert ist, dass die Füße in "wasserdichten" Socken nur kalt sind und nicht auch nass, und ob man das überhaupt unterscheiden kann oder ob das nicht alles komplett egal ist.

Bergpfad Gehlberg, km 58-63, Foto: Eckhardt Seher
Wieder anders, dafür konstant ansteigend, präsentiert sich die Strecke auf ihren 5km entlang der östlichen Gehratal-Flanke auf dem Panorama-Weg nach Gehlberg, von dem man bei Normalbedingungen bestimmt eine tolle Aussicht hat. Fünf zermürbende Kilometer, auf denen die Füße kaum einmal horizontal aufsetzen können, weil der Pfad ständig zur Talseite hängt. Fünf zermürbende Kilometer, auf denen Jan 10mal erzählt, „gleich geht es runter ins Dorf!“. Die Betonung liegt auf „gleich“ und „runter“. Es dauert letztlich ewig, weil wir (oder besser gesagt: ich) inzwischen nicht mehr durchgehend im Laufschritt bleiben können. Und dann geht es nicht bergab, sondern recht deutlich hinauf durchs Dorf, das bei diesem Wetter in der beginnenden Dämmerung einen an Trostlosigkeit kaum zu überbietenden Eindruck hinterläßt.

Es folgt das Grande Finale. Ich kann mich später in der Gaststube der Schmücke an kaum einen Finisher, mich eingeschlossen, erinnern, der dem uns wie immer gutgelaunt und entspannt empfangenden Gunter nicht ein „Scheiß Skihang!“ entgegenschleudert. Der - nicht ganz unschuldig an dieser „geringfügigen Streckenänderung“ gegenüber 2013 - nimmt‘s mit Fassung und einem noch breiteren Grinsen. Immerhin ist er Profi genug, uns nicht schon am VP2 erzählt zu haben, was uns noch bevorstehen sollte. Vielmehr flößt er uns da mit „für euch noch ca. 3 Std.“ (für die letzten 20km bis zum Stein) ziemliche Zuversicht ein, hier locker unter 10 Stunden finishen zu können. Gebraucht haben wir dann am Ende 3:50h bzw. 10:18h insgesamt!

Und das kommt so:
Irgendwann, nachdem wir uns auf dem mit einem grünen "W" auf weißem Grund (das mich irgendwie an das damalige "Werner"-W erinnert, was mich wiederum daran erinnert, dass wir wohl alle Bekloppte sein könnten) markierten "W"ilderer-Pfad zum letzten Mal verlaufen haben und Jan die Strecke "jetzt aber wirklich" wiedererkennt, hören die Spuren vor uns (es waren jetzt seit Stunden genau 3, und wir rätseln immer noch über die Schuhmarke von Rene, weil wir das Profil nicht kennen) unvermittelt auf. Wo sind die hin? 

Ich ahne Schlimmes (und bin gleichzeitig erleichtert): Geht es hier etwa (endlich) los? Ein verstohlener Blick nach rechts: Eine bedrohliche Schneise, die sich unglaublich steil als Direttissima den Hang hochzieht, um oben im Nebel zu verschwinden. Nasser Schnee über nassem Gras, aus dem knie- oder hüfthohe nasse Sträucher ragen. Kein Weg. So ein Wahnsinn warum schickst du mich in die Hölle, eiskalt lässt du meine Seele erfrier'n ... Drei Spuren. Diesen Hang würde kein normaler Mensch im Sommer (ohne Schnee, ohne zuvor 65km gelaufen zu sein) in Angriff nehmen. Wir sollen da hoch? Es wird der langsamste Kilometer meiner Laufgeschichte: 26:44min (bisher lag dieser Rekord am Sonnenkopf (km 59 des APUT) mit 20:11min [update: Ha, falsch! Beim Ketten-Marathon im Mai 2012 in Würzburg, der 72 andere Doofe und mich nach 6h28min zum amtierenden Guiness-Weltrekordler machte, brauchten wir für km31 20:45min, weil einige bei >30°C temporär wie geröstete Maikäfer auf dem Rücken lagen]). Die Story, dass da irgendwelche Leute ohne Lift mit Skiern auf der Schulter hoch sind, um wieder runter zu fahren, glaube ich nicht (also weder hoch noch runter!). Mit anderen Worten: Ja, es ist steil!

Born to run: "Kämpfe nicht mit dem Weg!" Ich mache lieber gar keinen Schritt, als einmal auszurutschen. Hier auszurutschen, hieße nämlich: abstürzen! - Ich schalte um in den Lhotse-Flanken-Modus (den ich ja GsD als Teilnehmer der Hengstberg-Challenge, die wir Göttinger dieses Jahr in heimischen Gefilden überschwänglich zelebriert haben, hinreichend üben konnte): Stock - Stock - Fuß - Fuß. Egal, wie klein die Schritte sind und wie kurz dieser brutalst mögliche Abschnitt auf dem Garmin erscheint, als wolle er sagen: "Mensch, nun mach mal hinne, einmal rechts rum, einmal links rum, kann doch nicht so schwer sein!" - irgendwann werde ich von oben herunterschauen und ihn besiegt haben! - Das Problem ist nur: Ich kann nicht mehr! Es regnet. Es ist kalt. Ich hab keinen Bock, den Rucksack abzusetzen und mir einen Tee einzugießen, zu kompliziert! Ich hab keinen Bock, einen Riegel aus irgendeiner Tasche zu fingern und ohne Tee sowieso nicht runterzukriegen! Mann, keine 2km vor dem Ziel, das ist doch ein Witz! Jägerstein, wo bist du, sag mir: wo bist du? Andere stehen jetzt auf dem Weihnachtsmarkt und schlürfen Glühwein. Wir Idioten! - Weiter, immer weiter, was sonst? - Am Ende haben wir übrigens 100% Finisher-Quote. Phänomenal! Aber eben auch ohne Alternative (wenn man über Gehlberg hinaus ist und nicht jämmerlich an diesem Hügel verrecken will).

Die "Hölle", der "Normalweg" am Ende dieses Irrsinns, ist wirklich wieder gehbar. Laufen? Davon redet seit Langem kein Mensch mehr (" ... und mein Stolz liegt längst schon auf dem Müll
doch noch weiß ich was ich will")!
Nur noch unter ein paar Bäumen durchkriechen. Alles egal. Schnee und Wasser in den Schuhen? Egal. Ich nehme den schneefreien Bereich, auch wenn da das Schmelzwasser als Bach runterströmt. Komische Fingerabdrücke im Schnee: Als ob sich da jemand ohne Handschuhe mit den Fingern als Steigeisen hochgearbeitet hat... Jan biegt links ab - wir müssen oben sein!!

Es ist fast dunkel. Gut, dass wir um 6 los sind! Vor uns waren nur drei am Stein (aber die 7-Uhr-Gruppe war natürlich teilweise insgesamt schneller, nur mit Mühe konnten wir uns die Meute in der Hölle noch vom Leib halten). Wir haben keine Kraft mehr, ein Foto zu machen (bzw. das Handy rauszukramen). Ich weiß nur eins: jetzt ist Schluss und dass ich um dich kämpfen muss(te)... Kurze Umarmung (oder haben wir uns die auch gespart?). Weg hier, runter ins Warme und Trockene! Runter? 50 Höhenmeter auf 2 km sind es nur, das hatte ich natürlich übersehen! - Und da es fast eben ist, sammelt sich das Schmelzwasser natürlich prima in den Spurrillen des Fahrwegs. Egal - richtig egal - durch da! Nach Hause! Es reicht für heute.

Wie gesagt: Warmer Empfang in der Schmücke. Sofort haben wir unseren Zimmerschlüssel in der Hand, unsere Taschen, die sauber aufgereiht im Nebenraum auf uns warten, gegriffen und die letzten paar Meter ins Nachbargebäude bewältigt. Die zweite Nacht mit Jan im Doppelbett, auch dies ist eine Einheit auf dem Trainingsplan, die es abzuhaken gilt. Genial großes Zimmer (bzw. eher zwei), in denen man die triefenden Klamotten verteilen kann (dieses Glück hatten aber nicht alle ...). Das Beste ist die alte gußeiserne Heizung, die unsere Bude bis zur Rückkehr nach dem Feierabendbier in eine Privat-Sauna verwandelt haben wird. - Ich bin erster mit Duschen und bereits unter der molligen Decke weggenickt, als Jan fertig ist. In einem letzten Akt totaler Selbstüberwindung raffen wir uns nach 10 min wieder auf und wanken rüber zum Essen. Bei diesmal wirklich fleischlosen Tortellini hocken wir noch etliche Zeit bei wechselnden Tischbesetzungen und Füllhöhen in den Gläsern zusammen, beklatschen die hereintorkelnden Finisher (die letzten kommen nach 22 Uhr an! Was für ein Ding: nochmal 6 Stunden durch die Dunkelheit!!), und nehmen unsere Urkunde und den schwer erarbeiteten, handgetöpferten "Höllen-Stein" als Finisher-Auszeichnung in Empfang.

Mit zwei Tagen Abstand kann ich nur sagen: Beeindruckendes Event, was Micha und Gunther mit Sabine und anderen Helfern da auf die Beine stellen. Und mein Respekt vor der Strecke war keinesfalls unangemessen: Trotz aller Widrigkeiten, primär der Nässe von oben und unten, waren es wohl eher noch moderate Verhältnisse. Bei der Premiere vor 2 Jahren war kilometerlanges Tiefschnee-Spuren angesagt. Von daher bin ich aktuell froh, mit einem blauen Auge (und ohne neuen blauen Zehennagel) davongekommen zu sein (tatsächlich - unfassbar: nicht die kleinste Blase an diesen malträtierten Füßen!). Diesen Lauf würde ich (im Gegensatz zur BC) definitiv Niemandem als Erst-Ultra empfehlen (da sollen angeblich solche KandidatInnen unter uns gewesen sein!?). Und sein GPS sollte man auch wirklich kennen, vor allem die Akku-Laufzeit ... Wer es sich aber richtig geben will, findet hier mit Sicherheit eine nach oben offene Skala an Gemeinheiten. Und ich bin mir fast sicher, dass Gunter notfalls noch nachlegen könnte.

Für mich persönlich liefert die Teilnahme die Gewissheit, 10 Stunden in Schnee und Regen bei knapp über Null Grad unterwegs sein zu können. Die wollte ich schon immer gern mal haben, denn wer weiß, wie es bei der nächsten BC aussieht ... Mehr als zufrieden geht es daher nach einem entspannten, ausgiebigem Frühstück mit supernetter Bedienung im Bus zurück nach Fröttstädt und nach der Verabschiedung von der Horde (nicht Wenige davon sehe ich irgendwie alle 14 Tage) weiter in die Heimat. Der 100. Marathon/Ultra kann kommen - es wird die Brocken-Challenge sein.


Foto: Eckhardt Seher

Montag, 1. Dezember 2014

zwei feine Kleine

Wo steht eigentlich geschrieben, dass nur über die "großen Events" gedichtet werden darf bzw. es der Mühe Wert erscheint, einige Gedanken zu bewahren? Ich komme einfach nicht umhin, "Lipperland" und "Twistesee" auch zu bedenken. Sie haben es beide verdient.

a.
Humfeld rückt irgendwie immer näher an Göttingen heran. Man braucht beim 4. Mal keine Landkarte mehr (was ist ein Navi?), um es dort zwischen Barntrup und Dörentrup zu finden. Jetzt ist auch die Ortsumgehung von Aerzen fertig und es geht noch flotter. Die Rübenlaster sind äußerst zügig unterwegs, der Astra kommt kaum hinterher. Das schenkt uns letztlich wertvolle Zeit vor dem Start, um in den Bergen der Alt-Urkunden nach vergangenen HeldInnen-Taten zu graben oder mit Bekannten zu klönen, von denen etliche mit diesem bekannten hell/dunkelblauen Auto-Aufkleber durch die Welt gondeln. Oder an der Startnummernausgabe um die besten Nummern zu feilschen (die wie immer per se bedeutungsvoll sind, heute aber mal wieder ganz besonders im Mittelpunkt stehen werden). Es wird die "333" für Sanna und die "332" (ja, New York ohne Null!) für mich. Ganze 8 Euro für einen (fast) ganzen Traditions-Marathon (41,5km - 35. Austragung!) sind in der "Idealisten"-Klasse (kein TShirt, keine Abzeichen) zu berappen.

Wie immer entstehen kurz vor dem Start überflüssige Diskussionen über die Position der Startlinie und die Laufrichtung. Nach drei-/viermal merkt man sich das! Wie immer steht 2min vor dem Start um 12h mittags kaum einer bereit. Wie immer laufen hier heute alle (das sind leider nur gut 60 Leute bei optimalen Bedingungen [trocken, 10°]) locker und "nur so". Nur Sanna hält sich mit pace 4:50 auf den ersten 4k, die uns an die zweimal zu laufende 16,5k-Schleife heranführen, nicht dran und ich hänge zwischen den Stühlen: Mit ihr zusammen laufen (wie eigentlich ausgemacht) oder "so 3:45 bis 4:00h", wie mit Jan besprochen? So trabe ich erstmal einsam in der Mitte vor mich hin. Genau zu Beginn der ersten Schleife habe ich Sanna ("ich schlage dich 2015 in Hamburg!") aber ganz von alleine eingeholt und damit sind die Würfel für heute gefallen: Mit ihr laufen! Was dabei am Ende herauskommen wird, kann man angesichts ihres doch lückigen Trainingsstandes nicht unbedingt vorhersagen, vielleicht werden wir ja Jan und die anderen doch noch vor der Ziellinie wiedersehen ...

Zweifel an der Pace (da gibt es auch noch 800 Höhenmeter ...) können einem allein schon deshalb kommen, weil wir hier gerade auf Gesamt-Position 2 und 3 (!!) laufen ... Scheint aber einfach "niemand da" zu sein, denn wirklich überzogen schnell sind wir ja nun auch nicht unterwegs. Ich genieße es, im Gefühl zu laufen, die Strecke erst vor wenigen Wochen zum letzten Mal absolviert zu haben, so plastisch habe ich plötzlich alle Abschnitte vor mir. Das birgt eine gewisse Ambivalenz, denn es könnte ja auch Langeweile und Demotivation aufkommen. Heute ist es aber eher umgekehrt: Ich kann Sanna erzählen, wann die nächste Verpflegung kommt, und sie und mich selbst auf die anstrengenden und erholsamen Abschnitte einstellen. Bereitwillig und entspannt lassen wir erst einen, dann noch einen Läufer gegen Ende der ersten Runde vorbei. Entweder, ihr seid weg, oder wir sehen uns später noch mal!

Hm, jetzt wäre ich alleine schon schneller unterwegs ... Egal, ich bleib einen Meter hinter ihr. Ich bekomme Redeverbot. Recht hat sie. Es ist unglaublich ätzend, wenn man während eines Laufs, der einen selbst anstrengt, von jemandem zugetextet wird, der offenkundig nicht ausgelastet ist (aber soll ich jetzt nicht doch wenigstens einen von den beiden Überholern kassieren, um wieder auf Rang 3 zu laufen?) Nein, nicht heute, nicht in Humfeld, nicht in meiner Laufpause (hahaha) nach New York.

Mitte der zweiten Runde. Die große Prärie mit den Windrädern. Weiter Blick. Da vorne ist der eine ja wieder! Sind wir näher gekommen? Ruhig! Ganz locker die lange Gerade hoch zum Waldrand. Wir werden (noch) nicht schneller! Klar, der Typ ist alle! Wir müssen überhaupt nicht schneller werden, am Berg fällt er quasi auf uns zu. "Bin doch nicht so fit wie ich dachte!" murmelt er uns beim Überholen zu. Immerhin ehrlich und keine blöde Ausrede. Sanna is back. Jetzt würde ich allein eher langsamer laufen. Aber versprochen ist versprochen. Macht Spass! Wie vor zwei Jahren in Arolsen, als wir 2km vor dem Ziel ihren Frauen-Sieg beschlossen, einfädelten und durchführten. Diese Momente sind unbezahlbar.

Die zweite Runde ist beendet, es geht runter raus aus dem Wald zurück nach Humfeld. Inzwischen ziehen uns Walker und langsamere Halbmarathonis unaufhörlich nach vorne. Gesamtpace? 5:10! Humfeld ist knapp 1km zu kurz... "Ey, wir können noch 3:33 schaffen, Deine StartNr.!" Los geht's. Oh, das wird knapp ... 3:32:30 ... 3:32:45 ... sehr knapp ... Wir sprinten wie die Irren in den Zielkanal und ernten fassungslose Blicke (kein Mensch weit und breit, den wir noch hätten überholen können). Kurze Verhandlung mit dem Zielgericht: "Das muss noch eine 3:33 gewesen sein!" Ja! War es auch: 3:33:59. Perfekt. Jan und Björn kriegen das am Ende genauso gut hin: Haben eine 4:00h angesagt und laufen 4:00:08. Wir haben das alle ganz schön drauf!

Es war aber nicht nur Jux und Tollerei. Jeder Marathon lehrt mich etwas. Und das ist kein dummer Schnack. Heute war es eine kleine, offenbar notwendige Wiederholung (der Lektion vom Mai am Elm): Zu zweit ist es leichter, so viel leichter! Vor 2 Jahren bin ich alleine auf der identischen Strecke zwar bis auf 2sec (!!) die identische Zeit gelaufen, aber es war so ungleich viel schwerer!

Würde mich wundern, wenn ich nächstes Jahr nicht wieder nach Humfeld gurken würde. Auch wenn ich die 2014er Urkunde diesmal schon direkt überreicht bekommen habe. Aber vielleicht ist dann die "320" ja noch frei!

  


b.











Arolsen-Wetter! +2°C, und grau-grau-grau. Anders haben wir das seit 2008 eigentlich nie erlebt. Ab und zu ein bißchen feuchter höchstens. Nix wie hin da, zum 5. Mal!

Knapp 100km von Göttingen an den Twistesee. 2 Erwachsene im Auto. Ob wir es diesmal endlich mal in einem Rutsch schaffen werden? Kurz hinter der Werra-Brücke (km 22) wird dieses ehrgeizige Vorhaben durch die Beifahrerin bereits sabotiert. Immerhin - ein neuer Negativ-Rekord. Dafür schaffen wir es diesmal, den Blitzkasten vor der Fulda-Brücke in Ruhe zu lassen und das preis-werte Frühbucher-Startgeld von 22 Euro nicht mutwillig zu erhöhen. Wieder gibt es ein paar Kreisel und Logistikhallen mehr entlang der Strecke. Wann hört das endlich auf? Unser timing ist gewohnt perfekt und wir bekommen einen der letzten freien Parkplätze in der pole position direkt vor dem Eingang der Festhalle. Da hat es Sanna nicht so weit zu tragen mit ihrem spontan beschlossenen und genehmigten Gesundheitsstand im Foyer.

Wir vom ASFM rücken hier heute in großer Besetzung an und nehmen wohl zumindest die Mannschaftswertung ziemlich ernst. Jedenfalls wird die einheitliche Schreibweise des Vereinsnamens bei der Startnummernabholung noch mal kontrolliert, damit nicht wieder dasselbe Malheur passiert wie letztes Jahr, als uns dadurch der 3. Platz durch die Lappen ging (ich war ausnahmsweise schuld). Dass hier immer die "Worschtfreunde" gewinnen, müssen wir in einem Akt grenzenloser Toleranz (wikipedia: "Geltenlassen und Gewährenlassen fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten") wohl akzeptieren.

Am Twistesee kannst Du eigentlich starten, wann immer du Lust hast, jedenfalls zu jeder vollen Stunde vor dem Hauptstart um 11 Uhr (das geht in Humfeld übrigens auch). Um 16 Uhr sollen alle wieder im Ziel sein, dann ist ja auch dunkel (und der Glühwein und das Duschwasser alle). Das ist natürlich ein toller Service vom "Veranstalter", der einem hier in Form der liebenswerten Familie Wierschula noch von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt, und den Besatzungen der VPs, die dadurch natürlich noch länger in der Kälte durchhalten müssen (na, auf jeden Fall früher). Auch sonst ist man um die Teilnehmer überaus bemüht und besorgt und beim Briefing wird man vor allen Hindernissen und Eventualitäten auf der Strecke gewarnt. Aber die Quote der Erstteilnehmer ist erfreulicherweise durchaus beträchtlich und so ganz "ohne" ist die Strecke ja nun auch wirklich nicht.

Viertel vor Elf schlendert man kollektiv zum Start am jenseitigen Ende des Staudamms und fragt sich schon jetzt, ob oder wie man "nachher" wieder diese Rampe vom Ufer hinauf zur Halle schaffen soll. Als die Startsirene losheult, bin ich noch mitten in ein renntaktisches Gespräch vertieft, und so sind alle meine Leute weg und weit vor mir. Das hat den Vorteil, dass ich diesmal nicht als Schuldiger für's Anfangs-Überpacen in Frage komme und den Nachteil, dass es fast 3km bis zum Ende des Sees dauert, bis ich wenigstens Jan und Sanna eingeholt (und dabei ordentlich überpaced) habe. Und schon geht es auch hinein in die rolling hills. Sie kommen mir jedes Mal flacher und angenehmer vor. Streckenkenntnis ist wohl ein großer Vorteil.

Nicht gerade verhalten geht es über die ersten 16km im 4:45er pace. Allein wäre ich langsamer (und wohl "hinten" bei Jan - Tim und Alex sind irgendwo viel(?) weiter vorne). Ich bin aber zu neugierig, ob Sanna schon wieder so ein Ding raushauen kann wie vor 2 Wochen in Humfeld (Lipperland), und so bleib ich bei ihr. Es ist dies erst ihr 3. Marathon dieses Jahr, dazu kommt ein kurzer Ultra (Bilstein). Lange Trainingsläufe waren bis auf wenige Ausnahmen Fehlanzeige. Dagegen ist es für mich der 10. Marathon, neben 11 Ultras. Genau: Heute, das ist hier mein 50. echter Marathon (ohne Ultras) seit September 2007. So viel kann ich ja schon mal vorweg nehmen, ohne das heutige Ergebnis zu verraten: Die Durchschnittszeit dieser 50 Marathons liegt bei 3:31:26 bei durchschnittlich 595 Hm (die haben wir hier heute zufällig auch - ungefähr [das "Angebot" reicht je nach Uhr und Nachbearbeitung von 530 bis 635]).

Auf dem kurzen steilen Stück bei km17 ist Sanna dann plötzlich weg - hinter mir. Ich fummle das Klopapier raus und denke, es kann ja nicht schaden, etwas Vorsprung herauszulaufen, denn es drückt doch einigermaßen (also nicht das Klopapier ...). Trotzdem sollten wir uns dann erst im Ziel (oder besser gesagt: nach dem Duschen) wiedersehen. Dafür treffe ich andere, erwartet oder unerwartet: Maren z.B., kurz vor Ende der Wendeschleife bei km25, die um 10h gestartet war und gar nicht so vergnügt dreinschaut. Oder Tim bei km32, am Ende der 2km langen, fiesen Steigung, mit dem ich nicht unbedingt gerechnet hatte. Ansonsten battle ich mich von km 15 bis 35 mit zwei Kandidaten, die vielleicht genau wie ich froh wären, wenn die anderen einfach von der Bildfläche verschwänden und man endlich etwas ruhiger weitermachen könnte. Aber so? Nehme ich es als Zeichen, dass ich jetzt auch die verbleibenden Kilometer vernünftig zu Ende bringen soll. Die langsamste Durchschnittspace, die ich heute auf der Uhr hatte, war 4:49, die schnellste 4:44 (ganz so, als ob es keine Hügel gäbe ...). Also ist der Rahmen vorgegeben.

Als ich dann nach dem letzten VP in Braunsen bei km38 vorne eine blau gekleidete Figur ausmache ("sehen" kann man das mit den gewohnten Kälte-Tränen in den Augen nicht wirklich nennen), muss ich grinsen. Wenn das jetzt Alex ist, dann wird er was erleben! Genau auf diesem Abschnitt haben Sanna und ich 2012 in einem taktischen (Genie-)Streich ihren Frauen-Gesamtsieg klargemacht, in dem wir uns von hinten anpirschten und im offenbar richtigen Moment wenige 100m vor dem Ziel zum Überholen der bis dahin Führenden ansetzten. Das hatte richtig Spaß gemacht (als es vorbei war und funktioniert hatte). Aber bis zum Auflaufen tut es erst mal weh. Ziemlich bald bin ich mir einerseits sicher, dass ich den Typ locker einkassieren werde, aber auch, dass es nicht Alex ist, schon rein laufstilmässig.

Nee, Alex war schon Stunden im Ziel und hatte seinen 2. oder 3. Glühwein fertig, als ich nach knapp 3:22h in persönlicher Strecken-Bestzeit ankomme. Er textet wie ein Wasserfall und kann auf seine 3:12h (Gesamt-Neunter!) natürlich mehr als stolz sein. Wir machen aus Jux dasselbe Finisher-Foto wie letztes Jahr. Und dann bekommen wir als Lohn der Anstrengung tatsächlich noch eine heiße Dusche. Nach der Definition des Veranstalters gehören wir also zu den "Schnellen", denn nur die genießen angeblich diesen Luxus.


Alle ASFM'ler finishen bravourös und Sanna landet in 3:31h (nur 5min über ihrer Flachmarathon- PB) auf dem 5. Frauen-Platz. So unterschiedlich sind die Konkurrenzen von Jahr zu Jahr, denn vor 2 Jahren gewann sie noch, war dabei aber 10min langsamer. Leider, leider dauert es mit den Auswertungen und den Siegerehrungen wieder recht lange, und da wir alle noch "Termine" haben, ist keiner mehr von uns zugegen, als es dann irgendwann damit losgeht. Aber wozu hat man Freunde? Martin von den BiMa's schafft es, unsere Mannschaftspreise (4. und 5. angeblich, Listen gibt es noch nicht) und meinen Gutschein für den Freistart nächstes Jahr (AK 1.!) entgegen der Anwesenheitsregel anzunehmen.

Übrigens, die Worschtfreunde haben wieder gewonnen - und das wird wohl auch so bleiben, bis sie Vegetarier geworden sind.