Montag, 12. Oktober 2015

Einfach ein guter Tag - Brocken-Marathon 2015

"Du, wir suchen uns jetzt einfach ein nettes Zimmer, futtern ordentlich und fahren morgen früh wieder zurück!" - So der Original-Vorschlag von Sanna ca. 10 km vor der Ankunft in Wernigerode am späten Freitagnachmittag. Der Harz zeigt sich aber auch mal wieder von seiner allerherausforderndsten Seite: Nebel, 20m Sicht, Nieselregen. Maximal Wetter, um eine Leiche relativ ungefährdet rechts oder links im düsteren Fichtenwald zu verscharren. Oder eben Pläne zu beerdigen. 5 Marathons in 5 Wochen, davon 4 zusammen. Der Auftakt war Bremen vor 6 Tagen. Es lief dort zwar ganz gut (was die Zeiten angeht), aber die Spuren, besser gesagt die Müdigkeit, wollten die Woche über nicht so recht weichen. Nun das hier: Weltuntergang, Aussicht auf eine sehr "erholsame" Nacht in der Turnhalle, morgen dann zum x-ten Mal den Kolonnenweg hochquälen, die alte Bestzeit von 3:39h, die schon fast eine ganze Altersklasse zurückliegt und schon zwei Angriffe überstanden hat, sowieso wieder nicht erreichen. Was soll der Blödsinn?

Gut, die Wettervorhersage für morgen ist natürlich top - sonst wären wir wohl auch gar nicht erst losgefahren, jedenfalls ich nicht. Der erste richtig kühle Tag mit einstelligen Temperaturen unten (und oben natürlich) sowie sehr viel Sonne und ziemlich wenig Wind steht bevor. Ok Berg, wir kommen! - 2 Euro die Nacht in wohlbekannter Umgebung. Die Claims sind mit diesen Tischtennis-Abtrennungen abgesteckt, die Hemden der Ur-Harzgebirgsläufer hängen wo sie immer hängen, nur die ehemals dauervermietete Geräte-Garage ist nicht mehr von dieser netten Familie aus dem Brandenburgischen belegt, die Kinder dürfen inzwischen frei laufen. Mit dem Bus in die Stadt zum Nachmelden, um den Parkplatz in der pole position nicht zu gefährden. Ohropax gibt es bei Rossmann direkt am Marktplatz. Hi, Conny & Kalle! - Wie gesagt, kein Wetter, das Lust auf irgend etwas macht, außer schnell wieder zurück ins Warme und Trockene zu kommen. Dort gibt es leckere mitgebrachte, noch warme Curry-Hirse mit selbstgemachtem Pesto (80% Knoblauch, der claim ist gesichert). Um 23 Uhr geht die restliche Hallenbeleuchtung aus. Als ich aufwache, ist sie schon wieder an, dazwischen hab ich nur einmal auf die Uhr geguckt. So gut hab ich hier noch nie geschlafen! Entweder ich bin entspannt, oder total fertig. - Frühstück mit noch mehr Hirse, unglaublich guten blauen Weintrauben von der heimischen Göttinger Gartenlaube und Tee, hier traditionell zubereitet mit dem von der netten brandenburgischen Familie geliehenen Ost-Kocher. Trotzdem - immer noch keine wirkliche Lust. Nicht doch lieber ins Café setzen? 42 Euro pro Mütze hätten wir ja auch bestimmt im Hotel bezahlt!

Aber die Luft draußen ist einfach der Hammer, der Himmel tatsächlich schon jetzt fast komplett blau, und die Startwiese zu sehr um die Ecke. Alle sind da, viele von ihnen trifft man auch noch in den wenigen verbleibenden Minuten vor dem Start, also los! - Schön hinter Sanna bleiben, kann heute eh nichts werden, nicht mal die Verdauung hat funktioniert. Schön hinter Sanna bleiben? - Gar nicht so einfach, sie prescht ziemlich los und ich muss aufpassen, wenn ich sie im Gedränge auf den ersten Kilometern nicht gleich aus den Augen verlieren will. Alleine wäre ich lockerer unterwegs, so viel steht fest. Zumal die Analyse meiner 5 bisherigen Brocken-Marathons ergeben hat, dass insbesondere die Zeit auf den ersten 8km, die nur leicht wellig am Harzrand nach Ilsenburg führen, kaum etwas mit der späteren Zielzeit zu tun hat. "8. Frau!" wird Sanna zugerufen. Ich weiß, dass für sie damit die Hatz auf weibliche Wesen vor ihr im Feld eröffnet ist (denn die ersten 6 kommen auf's Treppchen).

(c) harzlandschaft.de
Kurz nach dem ersten VP am Ortsende von Ilsenburg steht dann der erste Streckenabschnitt bevor, der schon eher eine Aussage darüber zulässt, ob heute "was gehen" wird oder eben nicht. Aber die Rampe bei km12 laufe ich komplett durch, ohne dass größere Verhandlungen mit dem ISH erforderlich werden. Aha! - Na gut, mal sehen, ob es so weitergeht. Ich überhole einige, die ich nicht in jedem Lauf überhole. Sanna bleibt etwas zurück, aber in Sichtweite. Die 7. Frau (war im Lamer Winkel weit vor mir [ach nee, sorry, das war ja die andere!]; stand beim TAR überall an der Strecke, hat heute einen Pacer, der sich beim TAR die Bänder gerissen hat. Ist sie deshalb so moderat unterwegs?). Dann schon der kurze, flachere Abschnitt mit herrlichem Ausblick auf den Gipfel, der hier bereits zum Greifen nah scheint. Aber noch sind es 6km und vor allem 600 Höhenmeter, bis beim Streckenkilometer 19,3 am Gipfelstein angeschlagen werden kann. Die Schleife hoch zum 2. VP laufe ich auch komplett durch. Ich bin mir sicher: das ist jetzt tatsächlich ein Novum. Hm, weiter... Sanna ist noch sichtbar. Die 6. Frau vor mir. Einbiegen auf den Kolonnenweg. Mit dem werde ich wie immer nicht kämpfen. Bringt ja nichts. Diejenigen, die (wie Sanna) hier komplett durchlaufen, machen maximal einige Zehner-Meter gut. Nee, ich guck lieber zurück ins Tiefland und rüber nach Torfhaus. Das ist heute wieder mal einer dieser maximal zehn jährlichen Tage am Brocken, an denen man glauben könnte, die Wetterstatistiken ("> 300 Nebeltage pro Jahr") spinnen. Einfach herrlich. Zuletzt war es hier oben 2008 so (die vielen sonnigen BCs mal außen vor gelassen), allerdings auch gut 10° wärmer. Heute ist es um den Gefrierpunkt, und natürlich kommt der Wind auf dem letzten Kilometer auf der Kuppe spürbar hinzu, aber für den Brocken ist das kaum mehr als ein laues Lüftchen. Dann Mike. Den überhol' ich hier immer, metergenau - schon verrückt! "Erster Trainingslauf für die BC!" meint er. Team Steinbock wird wieder am Start sein. Sanna holt uns ein. Also wieder antraben. 5. Frau.

(c) conceptfoto
Nach 1:54:30h bin ich oben (und klatsche Matze ab, der auf dem Stein hockt und auf die [ehemals] 7. Frau wartet). Oh, nur 2min langsamer als bei der bisherigen PB. Damit bin ich recht zufrieden - mehr bewirkt das erstmal nicht. Auf jeden Fall bin ich gefühlt noch nie so locker hier hoch gekommen. Vielleicht doch ein paar TAR-"Nachwehen"! - Jetzt schön gemächlich auf die Brockenstrasse einfädeln und vorsichtig in den Bergab-Modus schalten. Das Timing am Bahnübergang passt perfekt, der Zug ist gerade durch. Ok, dann also Feuer frei - let it roll!

Mist, wie befürchtet bewirken die Erschütterungen der Schritte auf dem Teer das Absinken und Verdichten beweglicher Komponenten im Darm. Das wird wohl nichts werden ohne Boxen-Stop heute. Mit leicht verklemmter Mimik passiere ich die kultigen LaOla-Damen, die da jedes Jahr in der Nähe des festen Klo-Häuschens das gesamte Feld unterhalten. Rein da? Nee, muss noch gehen. Endlich runter vom Asphalt. VP am Knochenbrecher, aber leider keine Cola, nichts Salziges. Es folgen einige minimale Gegensteigungen, bevor die Strecke über Kilometer in ein recht konstantes, optimal laufbares Gefälle übergeht. Ich überhole. Tach, Hubertus! Und überhole. Und könnte eigentlich schneller. Was ist hier los, heute, Körper? Ausnahmsweise mal einen dieser seltenen "Heute-läuft-es-einfach"-Tage auf einen Wettkampf-Termin gelegt? Das werde ich rauskriegen, wenn bei km32 nochmal eine ziemlich üble Gegensteigung ansteht. Also "übel" unter dem Aspekt, dass man schon 32km in den Beinen hat, und die letzten 10km konstant bergab gedonnert ist (alle paces zwischen 4:30 und 4:10). Pah, läuft heute auch, wie Butter. Bin ich auch noch nie durchgelaufen, glaube ich! Ok, dann gucken wir jetzt mal - und der Darm kann mich so was von!

Nach Kilometer 36.5 (und der wirklich letzten kleinen Steigung - klar - gelaufen!) trifft man auf die (eher nicht so schnellen) Halbmarathonies, die ein willkommenes Kanonenfutter abgeben und mit (gefühlt) doppelter Schallgeschwindigkeit eingesammelt werden. Mein Gott, läuft das leicht! Beim "noch 4km"-Schild habe ich 3:20h auf der Uhr, d.h. für eine sub-3:40 reicht jetzt eine 5er-Pace! - "Das wird was, aschu, das tüten wir jetzt ein!"

Klar, da sind heute 60 Leute schneller gelaufen als ich, z.T. natürlich viel schneller (und gut 600 teilweise etwas langsamer). Das ist ja nicht der Punkt. Ich freue mich, dass man es immer mal wieder erlebt - dieses Gefühl, das man so selten genießen darf, dass man manchmal glaubt: "das kommt wohl nie wieder!" - das Gefühl, das man nicht bestellen kann, wo alles zu passen scheint, obwohl es objektiv betrachtet gar nicht passen kann oder darf. Ich laufe 6 Tage nach der 3:17h in Bremen, wo die letzten 5km eine Qual waren und nach der es mir gar nicht gut ging, den Brocken in 3:37h und finde es einfach schade, als im Ziel schon alles vorbei ist. Das I-Tüpfelchen liefert dann die Sofort-Urkunde - auch noch Altersklassen-Sieger! - Gut, damit dürfte andererseits klar sein, dass eine lange Wartezeit bevorsteht, bis ich mal wieder (innerlich) so jubeln kann. Macht nichts. Irgendwann. Irgendwo. Jedenfalls unerwartet. - Spannend!

Sanna kommt irgendwann auch noch an. Nein - Scherz beiseite, auch sie kann mit knapp unter 3:52h ihre Brocken-Bestzeit zum 3. Mal leicht verbessern. Die Leguanos haben sie bergab doch etwas ausgebremst, meint sie. Sie ist sich ziemlich sicher, 7. zu sein, ich tippe eher auf Platz sechs, aber wer weiß das schon wirklich, selbst die erste Info ("8. Frau!") kann falsch gewesen sein (die Urkunden weisen das leider nicht aus, niemand kann uns weiterhelfen). Wir entscheiden uns, angesichts der einstelligen Temperaturen und unserer nassen Klamotten zurück zur Halle zum Duschen zu gehen - womit klar ist, dass sie die Siegerehrung zeitlich verpassen wird. - Zurück in Göttingen sehen wir in der Ergebnisliste, dass ich "leider" recht hatte. Die Enttäuschung darüber bleibt ziemlich begrenzt. Wir sitzen unter den Palmen in der Sonne. Es war einfach ein guter Tag.

die Zeit, sie scheint auch irgendwie zu rennen ... :)
(c) Joe Kelbel