Sonntag, 28. September 2014

Bin ich Ultra? - 1. Maintal UltraTrail


Schon wieder (lang) laufen?
Tja, wenn man quasi dazu gezwungen wird:
1. Altweiber-Sommer
2. Zwangs-Resturlaub 2013
3. ein Erstling (immer etwas Besonderes!)
4. Weinfranken? Kenn ich nicht!
Also ausreichend gute Gründe. Hinzu kommen wie immer die blanke Lust an der Qual, die Neugier auf deren Bewältigung sowie die Hoffnung auf neue Erfahrungen. All dies sollte hinreichend befriedigt werden.

Der Astra entscheidet sich aufgrund des völlig fehlenden Zeitdrucks am Freitag Mittag nicht ganz überraschend für die nicht ganz so kriegerische B27 nach Fulda. Zur Einstimmung auf die Zielregion futtere ich dabei schon mal ein Kilo rote Bio-Trauben (mit Kern!). Viele Pinkelpausen. Dann kurz doch auf die A7, bevor es im Gramschatzer Wald schon wieder runter und ab durch den Wald geht. Rimpar, Güntersleben, Veitshöchheim – man erreicht so das Startgelände ohne nervige Ampeln und ohne jeglichen Stadtverkehr. Ich spähe schon mal ab und zu in die Waldwege, wie der Bodenzustand so ist und welche Schuhe er nahelegt. Wir kreuzen diesen Abschnitt morgen 2mal, soviel hab ich mir gemerkt, also dürfte der Eindruck recht repräsentativ sein. Sieht alles ziemlich trocken aus, auch auf den Feldwegen kein Schlamm. Pure Grit, auch wenn ihr schon 1.100+ km in der dünnen Dämpfung habt: ihr dürft morgen wieder ran! 80g weniger pro Schuh als bei den Cascadia, die irgendwie doch eher in die echten Berge gehören.

Ich übernachte im Hotel-Ristorante Etna – eine rein monetär und lage-bedingte Wahl. Keine 2km vom Start, keine 50 Euro die Nacht. Im Mittelalter mag die Örtlichkeit noch eine lauschige Post-Station an den Fahrwegen am Main entlang gewesen sein. Dann kam wohl die Eisenbahnlinie dazu (50m hinterm Haus), dann die B27 (heute vierspurig in Höhe des 2. Stocks mit Auffahrrampe unmittelbar vorm Haus) und dann noch die ICE-Brücke, die man einfach quer über das gesamte Setting zimmerte. Will heissen: Lärm und sonst nichts, auch morgens um 3 sinkt die Taktung der Güterzüge kaum ab. Dann auch noch Gewehrschüsse! - nein, doch nur Kastanien, die auf ein Vordach knallen. Ich schlafe definitiv keine Stunde am Stück. Das Zimmer macht es nämlich erforderlich, das Fenster auf jeden Fall geöffnet zu halten, um in dem Muff aus überaltertem Teppichboden etc. nicht zu ersticken. Das tu ich dann trotzdem fast, denn das Fenster liegt über dem Restaurant-Eingang, der allgemein als die Örtlichkeit dient, wo man in Großgruppen weinseelig über die letzte gescheiterte Raucher-Entwöhnung palavert, und natürlich zwischen den Lungenzügen viel und laut lacht.

Aber ich bin ja Ultra und mir darf so was nichts ausmachen. Ich brauch ja auch gar nicht schlafen, liegen langt schon, ich muss morgen ja nur laufen und nicht denken. Die Mikro-Schlafphasen reichen dennoch für einen gefühlt stundenlangen pre-race-Start-Verschlaf-Alptraum in einer ganz neuen Version: Nicht das eigentliche Verschlafen ist diesmal das Problem, sondern eine vorherige, offenbar für nötig erachtete Streckenbesichtigung (Ablaufen einer kompletten Marathon-Strecke), in deren Verlauf nach und nach unumstößlich klar wird, dass man es nicht pünktlich zurück bis zum Start des Rennens schaffen wird. Gehirn – was machst du da?

Topfit erkläre ich somit um 4.45h die Nacht für beendet und bemerke sofort den ersten (und einzigen) Planungsfehler: kein Wasserkocher – kein Ingwer-Zitrone-Tee! Aber ich bin ja Ultra … Zum Glück gibt es noch einen Rest Weintrauben, dann greife ich eher mechanisch und recht appetitlos Banane, Apfel und OrganicFoodBar (Belgium Chocolade). Und ab geht’s, bloß endlich weg hier aus diesem Krach.

Die Startnummer (das ist hier wörtlich zu nehmen: kein störendes Werbe-Beiwerk, außer einem natürlich sehr berechtigten und mit mehreren ASFM-Größen aufgewerteten Hinweis auf den nächsten Bilstein-Marathon) hatte ich mir im Rahmen eines kleinen Spazierganges noch am Vorabend geholt. Und es gibt Aufkleber für den Astra! Spätestens jetzt war mir diese Veranstaltung gänzlich sympathisch. Ein sehr zurückhaltendes Setting in einem kleinen Vereinsheim, der (Jugend-)Fußball steht hier klar im Vordergrund. Nur ein einziges DINA4-Schild gibt einem Gewissheit, dass man richtig ist und morgen hier irgendwo der 1. Maintal Ultratrail (MTUT) starten wird. Jetzt am frühen, dunklen Morgen sieht das nicht wesentlich anders aus, aber der Parkplatz füllt sich kontinuierlich und die einschlägig bekannten Typen beginnen damit, ihre Utensilien zu richten.

Derer bedarf es eine ganze Menge, die Veranstalter haben eine recht umfangreiche Pflichtliste festgelegt. Für einen Lauf in einem solch moderaten Gelände etwas ungewöhnlich, aber auf keinen Fall schädlich. Der Vorteil ist für mich: keine lange Überlegung, ob mit oder ohne Rucksack, denn auch der „muss“. Da die Stationen im Schnitt 10km auseinander liegen und bis zu 20° angesagt sind, hätte ich mich wohl sowieso dafür entschieden. Trailschuhe sind auch vorgeschrieben, wobei glücklicherweise eine Mindestrestprofiltiefe nicht erwähnt wird. So wild wird es schon nicht werden, denke ich, „Trail“ ist ja immer sehr relativ und oft rennt man dann doch die meiste Zeit auf Forstschotterstrassen oder befestigten Wirtschaftswegen. - Kleiner Irrtum! -

Eine gute halbe Stunde vor dem Start um 7 Uhr beginnt die Dämmerung und das Aufblasen des Start- und Zielbogens. Die haben hier die Ruhe weg! Dann findet man noch den Sicherungsschalter für die Klo-Beleuchtung und das Mikrofon bekommt auch Saft. Dem briefing steht damit nichts mehr im Wege (es findet aber trotzdem ohne Mikro statt). Die wichtigste Info für mich ist, auf welche Markierungen (anderer Veranstaltungen) wir nicht achten dürfen. Für uns gibt es Schilder, Flatterband (schwarz-gelb) und aufgesprühte Bodenpfeile (rot). Check. Ich hab ja sogar den Track auf dem Garmin, was soll da passieren?

Vor uns liegen 61.5km mit 6 VPs und angeblich über 1.600hm. Die absolute Höhendifferenz umfasst aber noch nicht einmal 200hm! Das ist wieder so eine Strecke, deren Höhenprofil man viel zu leicht auf eben diese Schulter nimmt: Ach, die paar Hügel … Nee, diesen oft gemachten Fehler will ich mir heute nicht leisten – und ich habe die 5 oder 6 fiesen Zacken jenseits der 35km-Marke, bis zu der man den tiefsten (172m) und höchsten Punkt (368m) bereits hinter sich hat, bewusst abgespeichert. Dafür bin ich aber auf anderes nicht vorbereitet – ab wann ist man eigentlich wirklich ein richtiger Ultra = hat man alle möglichen Fehler gemacht?

Nun denn, es wird ernst – aber die Meute der geschätzten 150 Maintal-Novizen (die Startnummern gehen nach meiner Beobachtung bis 185) ist auch 2min vor dem Start nicht wirklich willig, den Raum vor dem Start-Banner zu füllen. Ja – was erwartet uns heute wirklich? Bei einer Erstausgabe ist die Spannung irgendwie anders. Rückblickend sind das für mich immer besondere Läufe gewesen, eben nicht nur für die Veranstalter. Dieses Jahr ist es nach dem Dragon Trail schon die zweite, insgesamt mit Bilstein und Solling-Querung (für die ich jeweils eine lückenlose Bilanz habe!) die vierte. Erlebte (Lauf-)Geschichte, sozusagen!

Durch eine glückliche Fügung finde ich mich nach dem Countdown von 10 relativ weit vorne wieder – und Überholen wird von km2 bis 10 nur selten einfach sein. System-Check: Garmin: läuft (mit Track), ich: laufe (schon nach 1km einigermaßen rund), Nase: läuft. Let’s go! Noch ist etwas Unruhe im Feld, eine Enduro versorgt uns mit Abgasen und Lärm, dto. ein Quad. Muss wohl sein. Hoffentlich nicht über 60k! Ein kraftstrotzender schwarzer Hund mit himmelblauen Augen (passt später gut zum Medaillen-Band!) wundert sich garantiert, warum wir so trödeln. Ich komme mir immer vollständig degeneriert vor, wenn ich sehe, mit welcher Leichtigkeit und Kraft sich diese Viecher - zugegebenermaßen auf 4 Pfoten - bewegen. Ok, break, es geht los: km2 – trail! Km3 – trail! Km4 – trail! usw. Erst bei km10 passen mal wieder 2 Läufer nebeneinander! Herrlicher spätsommerlicher – nein, im Morgendunst oder –nebel doch eher frühherbstlicher Buchenwald. Der Untergrund alles andere als einfach und trocken, jeder Schritt muss sitzen. Bäm – vor mir rollt ein Läufer ab. Nicht seine Schuld, er zieht sich ein meterlanges Stück rostigen Stacheldrahts vom Schuh – weia, Glück gehabt, nix passiert.

Der erste VP, der erste Weinberg, kurzes mentales Verschnaufen, aber schon ballern wir wieder irrwitzig steil bei km 12 einen recht schuttigen Trail hinunter. Unten scharfe Rechtskurve mit Posten: „8 min zur Spitze, 1min zu den Verfolgern!“ Ich muss schmunzeln: Die Spitze 8min vor mir? So so, das wird bald mehr sein… Aber die Verfolger interessieren mich. Ah, da sind sie, gleich 4 oder 5 Mann. Es geht jetzt 2km bergauf zum höchsten Punkt der Strecke. Langsam von hinten anschleichen! Sie gehen. Ich auch. Dies ist kein single trail mehr, dies ist purer Cross. Die rote Farbe an den Stämmen und die Flatterbänder halten uns auf Kurs. Prima. Oben hab ich sie. Eindrucksvolle Szenerie mit nebelverhüllten Windrädern und momentweisen Tiefblicken ins Maintal. Eigentlich viel spannender als blauer Himmel. Geil!

Km 15 – die ersten Halluzinationen? Sehe ich doppelt? Da läuft zweimal der selbe nebeneinander – gleiches Outfit, gleicher Laufstil. Ich hole sie ein. Ok, jeder Blinde sieht, dass das Zwillinge sind, sicherheitshalber frag ich trotzdem. Was mich wundert ist allerdings, dass sie keine aufeinanderfolgende (oder die selbe) Startnummer tragen. Ich habe sie heute nicht zum letzten Mal gesehen… Weiter geht’s, jetzt bei km17 recht felsig, fast wie beim Kernberg-Lauf in Jena, durch den Kalk, super Tiefblick (wenn man denn hinschaun könnte, aber das verbietet sich, wenn man hier nicht zum Rauskramen des vorgeschriebenen Erste-Hilfe-Packs gezwungen werden will). Und dann eine steile nasse Wiese hinunter, wo ich mich ehrlich gesagt wundere, vorher der Grip der Schuhe kommt, durch eine Art verlängerten Friedhof / Kreuzweg (kenn mich da nicht so aus) hinein nach Retzbach am Main, womit wir bei km19 bereits den tiefsten Streckenpunkt erreicht haben.

Luft holen, Beine ausschütteln, wo ist die Markierung? Für meinen Geschmack ein paar zu wenig rote Bodenpfeile im Ort. Intuitiv (kann das verkehrt sein?) gehe ich mal davon aus, dass es geradeaus geht, solange nichts anderes behauptet wird. Aber Bestätigung zwischendurch beruhigt immer ungemein. Nette Menschen stehen immer da, wo es auch Pfeile gibt, doppelt hält besser. Alles geht gut, ich rolle bei VP2 ein (und sehe schon die Rampe, die mir gleich bevorsteht). Die VPs – 100 Punkte, für Hard- und Software. Alles was ich brauche (und viel mehr) ist da: Salatgurke, Wassermelone, Lächeln, Applaus, nette Worte, Salzstangen, Cola. Den Rest (Vega-Gels und Rohkostriegel hab ich selbst mit). Wieder ein Herzblut-Event, man merkt es spätestens jetzt! Klasse. Weiter. „Da läufst Du hoch, Alter!“ Gemacht. Langsam aber sicher. Born to run im Kopf: Kämpfe nicht mit dem Weg! Wie wahr. Es gibt keine andere Option, außer auf den letzten 2k.

An Silvaner und Müller-Thurgau vorbei immer wieder unterhaltsame Stiche durch den Wald, auch Treppen, und schon bin ich auf der nordwestlichen Wende-Schleife. „Du bist die 12! Nächste Verpflegung ungefähr 2k!“ Das ist mal Info! Wow. Es läuft. VP3 – und weiter bergab in die Rückegasse. Jetzt wollen sie es aber wissen: der „Weg“ ist blockiert mit querliegendem Schwachholz, schade, hier könnte man sonst flott durchziehen. Flatterband. Ok. Flatterband. Flatterband? Flatterband? Garmin!! Kein Track! Ich sehe nur meine Position, aber nicht den Track! Was ist das, um Himmelswillen? Intuition! Weiter geradeaus, wenn nichts anderes behauptet wird, wie vorhin! Sind da Spuren? Ich denke schon. Ein großer Fahrweg kreuzt. Mist, hier muss eine Markierung sein! Ist aber nicht und aschu steht allein im Wald und guckt wohl ziemlich blöd aus der Wäsche.

Ich laufe weiter – keine Ahnung warum. Völlig blödsinnig! Aber ich bin auf Verlaufen schlicht nicht vorbereitet und es gibt keinen Plan. Ja, ich habe mich bei meinen bisherigen 47 Ultras und 45 Marathons seit 2007 noch nie verlaufen! Ich komme an eine Straße. Hinten sehe ich einen Ort. Ich habe die Orga-Nr. im Handy (Pflicht!), und wenn ich weiss, wo ich bin, macht ein Anruf vielleicht Sinn. Also hin da, 1km. Ich bin mir so was von sicher, keine Markierung übersehen zu haben, war ja auf nichts anderes konzentriert! Vielleicht war die ganze Rückegasse ein fake, und jemand hat da die ersten Flatterbänder nachträglich reingehängt? Scheisse, das Rennen ist gelaufen.
Was ist das für eine Straße? Oh, immerhin die B26! Sehe ich irgendwo andere Läufer in der Landschaft? Negativ. Ortsschild: „Stetten – nach Karlstadt 6km“. Anruf. „Stetten? Oh, da bist du viel zu weit! Zurück Richtung Nordwesten, dann in den Wald rein, und dann auf einem Waldweg südlich halten. Verdammt, da haben sie uns wohl wieder die Schilder geklaut!“ Norden, Süden, zwar vage, aber immerhin für einen Geographen verwertbare Angaben. Zurück wo ich herkam. So ein Mist. – F…! – Stopp! „Du bist Ultra! (oder etwa nicht?) Du kannst dich immer wieder auf neue Situationen einstellen.“ Kann ich das? Die Antwort wird mir wesentlich erleichtert, als ich mich kurz nach meinem Wiedereintritt in den Wald einem Haufen von ca. 15 Läufern gegenüber sehe, die da ratlos rumstehen. Genau auf der Kreuzung mit dem Fahrweg, der da links ziemlich eindeutig nach Süden verläuft (Sonne sei dank!). Ich erzähle ihnen die Kurzfassung: „Da geht’s lang!“ Weiss ich zwar nicht, aber so irre ich wenigstens nicht mehr allein umher. Keinen von denen hab ich zuvor überholt, d.h. ich muss jetzt mindestens auf Platz 35 oder noch weiter zurückgefallen sein. Ja, ich bin noch im Renn-Modus, ich mach keine Trainingsläufe über 61km. Nach 500m ein ordentliches MTUT-Schild, yiipeee! - und wir sehen, wo wir hätten rauskommen sollen. Wie auch immer!

Das nächste „noch zu laufen-Schild“ sagt „30“, meine Uhr zeigt 34,5, also waren das ziemlich genau 3 Extra-km. Macht mit Telefonieren wohl gut 20min Zeitverlust. Energieverlust? Motivationsverlust? Da vorn den kenn ich doch! Den hatte ich schon mal überholt. Jetzt wieder, sogar zügiger. Den nächsten auch! Und da, die Zwillinge. Ja, alle haben sich da irgendwie verfranst, der eine mehr, der andere weniger. Selbst der Sieger erwähnt später die Probleme bei km29 in einem Post. Ich fühle mich irgendwie wieder dabei. Ärgerlich bleibt es, aber es entsteht eine ganz neue Spannung: Wieviele kann ich auf der sicher selektiveren 2. Streckenhälfte wieder einsammeln? Die Jagd beginnt. Das älteste, einfachste genetische Programm ist wieder hochgefahren worden.

Am VP5 bei (eigentlich) km45.5 endlich die ersehnte Information. Platz 19! Und 2 sind gerade erst weiter und noch in Sichtweite. Hallali! Hinterher. Jetzt setzen auch wieder Detail-Erinnerungen ein. Nein, durch die Wand des Steinbruchs dort mussten wir erstaunlicherweise nicht, aber ansonsten kann ich mich an keinen horizontalen Meter mit Ausnahme von Straßenquerungen erinnern. Nach längeren, sonnigen Feldflur-Anteilen jetzt wieder mehr kühler, schattiger Wald. Bei km47 freundliche Info: „Bis zum 2. Flatterband, und dann gerade links hoch bis zum Gedenkstein!“ „Danke!“ Wollen die uns verar…..? Eine Wand!! Und oben ein Sadist mit Kamera. Aber ich hab die nächsten Beiden jetzt kurz vor mir und ich power mich da irgendwie hoch und kurz danach hab ich sie. 17! Bei 51 hab ich den nächsten. 16! Mensch, mir fällt auf, dass mich definitiv seit km 15 (oder früher) keiner überholt hat, von der Verlauf-Verwerfung mal abgesehen. Keiner. In dem Moment, wo ich das denke, bemerke ich Schritte von hinten, es ist der eine von den beiden kurz vorher. Wir laufen nebeneinander. Blick zur Seite. "Welche AK?" "50!" Mist. "Haben wir noch Chancen?" "Keine Ahnung!" "Ich mach so was sonst nie, komm ja auch aus Holstein." "Lauf weiter, ich komm da nicht mehr mit." Schnell ist er über 100m vor mir. Aber ok, noch sind es 8km, da kann viel passieren. Einfach weitermachen. Rums – ich mach mich lang, rolle aber, obwohl ich so was nie übe, ziemlich weich über die Schulter ab. Alles heile. Weiter. Letzter VP. Da steht der Holsteiner noch! Und 2 andere! Attacke!

Unendlich langsam arbeite ich mich an das Laufpärchen ran – die erste Frau (zuletzt bei km8 gesehen) und der Pferdeschwanz von km16. Logik: Ich hab die eingeholt, also bin ich schneller, also kann ich sie auch überholen, auch wenn ich inzwischen aus dem vorletzten Loch pfeife. Es wird ein Überholvorgang wie zwischen 2 Lkw in den Kasseler Bergen: Lang und langsam (und irgendwie überflüssig). Aber ich komme vorbei. Hinter mir kein Stau. 14! 

Hinter Güntersleben steht dann noch ein Haufen Sadisten und schaut zu, wie wir uns die letzte Diretissima einen Grashang hoch quälen. Nein, Quatsch, ich freue mich über jeden der insgesamt ca. 50 Zuschauer, die dieses Event verfolgen. Aber ein paar Gesichter habe ich mehrfach gesehen – das zählt nicht!

Dreh dich nicht um – das zeigt Angst und Schwäche. Aber ich bin schwach, und ich habe Angst, dass der Holsteiner-M50er doch noch von hinten anrückt. Gut, er tut es nicht. Luft holen für das locker-souveräne Einlaufen ins Stadion (ähem, bzw. auf den Fussballplatz). Funk-Ankündigung der Startnummer. So gehört sich das. Yes! Wie geil, aschu ist im Ziel!

Schöne Medaille! Kühles Weizen! Breite Bank mit viel Platz! Sonne! Grüner Rasen. Perfekt.
Heisse Dusche ohne Auto-off – besser geht’s nicht.

Bin ich Ultra? Wieder ein Stückchen mehr!



Liebes Orga-Team und alle Helfer und irgendwie Beteiligte:
Danke für diese spannenden, anstrengenden, lehrreichen Stunden bei Euch in Weinfranken (oder heisst es Mainfranken?)

Liebe Läufer, die ihr das diesmal verpasst habt:
Tja, jeder macht mal einen Fehler.

Montag, 8. September 2014

Atemlos durch die Nacht


Heute wird's mal nicht so lang!

Dafür war es ja der Lauf, oder besser: er hätte es werden können ...

Die 24 Stunden von Le Mans - nein: Rüningen. Dies ist ein beschaulicher Vorort am Südrand von Braunschweig, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass es dort selbst bei 90% Niederschlagswahrscheinlichkeit nicht regnet und alle Gewitter einen großen Bogen um die Piste machen. Die Piste - das ist ein bis auf den letzten Zentimeter vermessener, 1000m langer Parcours, der keinerlei Hindernisse oder Schikanen (bis auf eine 180°-Rechtskurve) aufweist, und garantiert auch keinen einzigen Höhenmeter (deswegen war ich ja auch hier; nach 2 Bergläufen einfach mal wieder flach laufen, ohne hinzugucken). Die Strecke gliedert sich vom Belag her in ca. 400m Rasen, 350m Tartan und 250m Asche (Grand), insofern kommt der Wahl der optimalen Bereifung natürlich entscheidende Bedeutung zu. Es gibt eine Boxen-Gasse mit Multi-Media-Wand, auf denen jeweils der aktuelle Rennstand zu ersehen ist, und unverzichtbare Infrastruktur wie einen Catering-Bereich (der z.B. morgens um 5h warme Pellkartoffeln im Angebot hat - genial!), Massage-Zelt, und eine Bühne für Live-Musik. Nachts wird das Ganze ordentlich durch Flutlicht ausgestrahlt. Das wichtigste aber vielleicht (zumindest für mich) ist die sattgrüne, topfebene Wiese, auf der man sein Zelt in maximal 50m Luftlinie zur Strecke aufschlagen kann. Damit steht dem vollen Sinnen-Erlebnis (Geräusche, Gerüche, Überholmanöver) auch während der (nicht gerade kurzen) in der Horizontalen verbrachten Rennabschnitte nichts im Wege.

Die 24 Stunden von Rüningen. Das Programm: Wir sitzen nicht im Rennwagen, sondern bewegen uns irgendwie auf 2 Beinen fort. So schnell wir wollen, so lange wir wollen, so oft wir wollen. Und wir wollen dann ziemlich oft und so schnell wie (noch) möglich, denn sonst fressen uns die Mücken auf. Nein, im Ernst, seien wir ehrlich: der Beiname "Lauf" ist in Bezug auf die Mehrheit der Teilnehmer und/oder Stunden nicht wirklich angebracht. Sei's drum! Dafür ist die Atmosphäre wirklich so entspannt, wie man es bei vielen geplanten Familienfesten leider nicht hinbekommt. Neben den Laufklamotten gilt es somit zunächst, Party-Garnituren, Grillapparaturen und Getränkevorräte auf die Wiese zu schaffen. Profis bewerkstelligen das mit Sackkarren oder Ähnlichem, Greenhorns wie wir vom ASFM (Hecke und Sanna sind auch dabei) müssen alles schleppen und haben so bereits vor dem Start ca. 60% ihrer Carbo-Speicher verbraucht.

24-stundenlauf, sportanlage-rüningenUm 15 Uhr geht der Spass los. Noch nicht sehr bedeutungsvoll zeigt die große Digital-Uhr über dem Start-Tor die "24:00:00" an. Für mich gibt es damit zum ersten Mal kein "wie weit noch?", sondern nur ein "wie lange noch?" Sehr ungewöhnlich (und gewöhnungsbedürftig). Aber genau dafür ist die Uhr da. Mit dem Startschuss beginnt sie ihren langen, sehr langen Count-Down auf "00:00:00". Zeitgleich erschallt eine tatsächlich bis zum Lauf-Ende am nächsten Nachmittag um 15h nicht mehr aussetzende Playlist mit liebevoll ausgesuchten Stücken, die - wenn man hinhört - alle irgendwie zum Thema Laufen, zur jeweiligen Tageszeit, oder sonstigen Lebenslagen passen. Das Ganze verteilt auf alle denkbaren Genres von Metal bis Schlager, von Abba bis Zappa und aus einem Zeitfenster von 1970 bis 2014. In Runde = Kilometer 5 joggen wir zu Billy Jean ("I am the one who will dance on the floor in the round"), danach verschwimmt alles schnell in der einsetzenden Erschöpfung. Bis auf eines: "Atemlos durch die Nacht." Leute, ok, die Nacht war lang, und das Lied kenne ich jetzt, es wird nie wieder aus meinem Stammhirn weichen. "Guten Morgen, liebe Sonne!" - ja, sie schien da mit Sicherheit schon über dem Nebel, der uns bei Tagesanbruch umgab.

Wie gesagt, es wird heute nicht so lang, keine (sportlichen) Details. Bis vielleicht auf die Tatsache, dass Sanna ihre 85km barfuss laufen musste (Schuhe zwar nicht wie früher mal beim Sieber Berglauf vergessen, aber dafür 2 linke eingepackt). Ansonsten steht alles in aller Ausführlichkeit in den Ergebnislisten und Statistiken. Meine sonstigen tiefschürfenden Erkenntnisse zum Rundenlaufen, die auch hier im Wesentlichen bestätigt werden, habe ich ja schon woanders zu Papier gebracht.

Was mir anders als eine fette Blase und eine leicht rubbelnde Knie-Außensehne nach 126km (neben besagtem Liedchen im Ohr) dauerhaft in Erinnerung bleiben wird, ist vor allem die Freude und Begeisterung, mit der die vielen Kinder, oft unter 10 Jahre alt, unterwegs waren. Blond-bezopft, stundenlang Hand in Hand schnatternd mit der Freundin schlendernd, auf Nachfrage strahlend und mit stolz geschwellter Brust (die trotzdem zu schmal für die Startnummer bleibt) die Rundenzahl verkündend ("17" am Abend, "28" am nächsten Vormittag). "Macht Ihr das eigentlich freiwillig oder kriegt Ihr eine Belohnung?" "Ja, wir dürfen jede Runde am Glücksrad drehen! - Und wenn ich einen Gutschein gewinne, schenk ich den Mama zum Muttertag, ich brauch' den nicht!"

Das sollte geklappt haben!

Ein wunderbarer Urlaubs-Abschluss.