Montag, 22. August 2016

Neuland - Mauerweglauf 2016

Dass der Titel meines Blogs mal so gut passen würde, konnte ich ja nicht ahnen ...

Wie das Blut in unseren Adern strömen wir keineswegs kontinuierlich durch diese Stadt. Eine ungreifbare Macht scheint die 300 Läufer in Grüppchen von 20 bis 30 Leuten durch die Straßen von Mitte und Kreuzberg zu pumpen. Sind es 5 beats per 10 min, die der Pulsschlag der Ampel-Taktung vorgibt? - Jedenfalls sind die Ampelintervalle in Berlin länger als gewohnt. Sozusagen ein echter Ruhepuls, hier auf den ersten paar Kilometern. Das passt also prinzipiell zum Vorhaben, aber schrill ist es schon, wenn sich alle paar hundert Meter eine Horde vermeintlich Erwachsener vor einer morgendlich verwaisten Metropolenkreuzung aufstaut, sich gegenseitig argwöhnisch bis ratlos beäugend. Hier traut sich (noch) keiner, der erste Lemming zu sein. Ein DSQ will keiner riskieren, und wer weiß - vielleicht meinen die Veranstalter es ja wirklich ernst damit, dass das Überqueren roter Ampeln ein no go [sic!] sei ...

Mir bleibt nur die Besinnung auf den Umstand, dass es völlig egal sein muss, was hier auf den ersten 5 von insgesamt 100 Meilen passiert. Und es wäre wohl auch noch egal, befänden wir uns bereits bei Meile 20 oder 30. Aber dort wird der Ampel-Spuk schon lange vorbei sein, bzw. der Mut der Kandidaten inzwischen gewachsen, nach einem absichernden Rundumblick (irgendwelche gelben Westen in Sicht?) den gesunden Menschenverstand zu seinem Recht zu verhelfen. Am Ende wird aber bei keinem einzigen Läufer ein DSQ in der Ergebnisliste stehen.

100 Meilen, 161km - für mich gleich 60km mehr als jemals zuvor am Stück. Es sollte ein besonderer Lauf sein, bei dem ich mich dieser selbst auferlegten Aufgabe stellen wollte. Und ein laufbarer Lauf, bei dem ich meinen Rhythmus finden kann. Ohne den würde es kaum gelingen können. Damit fällt die Entscheidung für den Mauerweg-Lauf quasi zwangsläufig. Eine große, geschlossene Runde auf der ehemaligen Grenzlinie um West-Berlin. Nur dort, wo diese Linie durch Wasser verläuft, werden wir abweichen. Auf keinen Fall ist der Mauerweg ein reiner Asphalt-Lauf. Nicht gänzlich flach, aber alles andere als hügelig. Obwohl, man sammelt über den Tag immerhin auch knapp 1000 Höhenmeter, wobei höchster und tiefster Punkt nur ca. 35m bzgl. der Höhe auseinanderliegen. Wir werden unsere Füße fast ausschließlich auf einen wenige Meter breiten Streifen setzen, auf den man 28 Jahre lang gerade keinen Fuß setzen konnte, ohne unmittelbar Gefahr zu laufen, erschossen zu werden. Bizarr. Wie kann es zu solchem menschengemachten Irrsinn kommen, und wodurch wird er wieder beendet? Auf den Tag genau 55 Jahre nach dem Beginn des Mauerbaus werde ich solchen Fragen ausreichend lange nachgehen bzw. -laufen können (aber wohl kaum Antworten erhalten).

Am Brandenburger Tor haben die Veranstalter eine symbolische Mauer aus Holzquadern errichtet. Die vorbeikommenden Läufer tragen sie Stein für Stein ab, reißen sie also ein. Ein zentraler Gedanke des Mauerweg-Laufes: Erinnerung an die Errichtung und das Bestehen der Mauer, und an die Menschenopfer, die sie (indirekt) kostete. Aber auch Feiern ihres Niedergangs und den "Sieg der Freiheit". Nach dem Lauf bekommen die Teilnehmer diese tollen Erinnerungsstücke, neben einem echten Mauerstein-Splitter, mit nach Hause.


Ich laufe bei km72 durch Griebnitzsee. Mir fällt das Straßenschild einer Nebenstraße auf: "via tilia", in exakt dieser Schreibweise. Ungewöhnlich. Ich schaue hinein in diese Straße: Nach 30m versperrt ein mannshohes massives Metalltor den weiteren Zugang zu den Häusern, ganz im Stil z.B. von mittleren Wohnquartieren in Nizza, wo ich gerade war, und wo man sich durch mindestens 5 Tore/Türen schließen muss, um in seine Wohnung zu gelangen. Warum wird so etwas nötig? Häuser? Eher Villen, Anwesen, mit rückseitig angrenzendem Seeufer. 2 Porsche Minimum im Carport. Auf Marmor geparkt. Was passiert hier? Von den Auswüchsen einer Diktatur befreites Terrain wird der vermeintlichen Freiheit sogleich wieder entrissen, und nicht mehr öffentlicher Bereich mitten in einer Siedlung geschaffen? Ganz anders motivierte Zäune und Mauern wieder hochgezogen, an denen zugegebenermaßen wohl nicht geschossen werden wird? Auch diese Zäune werden keinen Bestand haben, so viel steht für mich fest. Bis dahin wünsche ich den Menschen, die sich und ihren übermässigen Reichtum dort einigeln müssen, gutes Wohlbefinden und ruhigen, nur selten durch Fehlalarme gestörten Schlaf. Und dass die Torschließautomatik nie den schönen Porsche zerquetscht. Die nächsten Plattenbauten stehen fast in Sichtweite. Die via tilia verläuft auf dem ehemaligen Todesstreifen.

Eine Beobachtung zieht sich als Muster über den gesamten Verlauf der Strecke: Der ehemals freie Streifen erscheint (im besiedelten Bereich) als Großbaustelle, wobei die neuen Gebäude oft wie Fremdkörper in der Umgebung rechts und links davon wirken. Aber die Grenze verlief auch durch Felder und Wälder, und hier darf sich abschnittsweise (noch) die Natur zurückerobern, was ihr temporär entrissen war. Wahre Idyllen wenige Kilometer vom Hauptstadtbrausen entfernt.

161km - das bin ich vorher ein paar Mal mit dem Rennrad gefahren, also vor -zig Jahren. Hat jedes Mal gereicht! Fast 4 Marathons am Stück. Oder 5 sogenannte "lange Läufe". Was wird es bedeuten, ca. 20 Stunden lang ununterbrochen dasselbe zu tun? Man kann nicht 20 Stunden schlafen, man kann auch nicht 20 Stunden arbeiten (ich jedenfalls nicht), wieso sollte man 20 Stunden laufen können?
Wie teile ich mir diese Distanz ein? Gängige Strategien sind: Von VP zu VP "leben". 27 VPs!! - Bei meinem ersten Halbmarathon (auch das war einmal eine "neue" Distanz, und ist keine 10 Jahre her) bin ich von Kilometerschild zu Kilometerschild gelaufen, habe sie sozusagen "eingesammelt". Das hatte gut funktioniert, entwickelte sich sogar recht kurzweilig. Soll ich hier jetzt "VPs sammeln", ein paar mehr als Kilometer beim Halbmarathon? Und in Abständen, die fünf bis sieben Mal länger sind? - Eine andere Praxis ist es, sich unterwegs darüber zu freuen, schon ein Achtel, ein Viertel, die Hälfte, zwei Drittel, drei Viertel der Gesamtstrecke geschafft zu haben. Was ist ein Achtel von 161km? Und was bedeutet das einerseits für den bewältigten Anteil vom Ganzen (wohl nicht besonders viel!) und andererseits für das Körpergefühl (für mich sind 20km immer noch eine überdurchschnittliche Trainingsdistanz, nach der man ruhig merken darf, dass man gelaufen ist). Wird man sich über das Erreichen der Hälfte freuen dürfen, wohl wissend, dass man damit zwar sinnbildlich von Göttingen auf den Brocken gekommen ist, aber jetzt leider in Abweichung vom sonstigen Verfahren auch noch wieder zurücklaufen muss? - Oh je!!
Ich erinnere mich an meine erste BC, 2008, meinen ersten Ultra. 80km nach bis dato einem (!) gelaufenen Marathon. Da kannte ich all die erwähnten Möglichkeiten, sich die unüberschaubare Strecke in handhabbare Häppchen zu zergliedern, noch nicht. Rein intuitiv legte ich mir damals folgendes Konzept zurecht: "Du wirst 10 bis 12 Stunden unterwegs sein. Bevor nicht mindestens diese Zeit verstrichen ist, wirst du nicht am Ziel sein. Du musst einfach 10 bis 12 Stunden in Bewegung bleiben. Wann du unterwegs wo sein wirst, ist völlig egal, du musst einfach einen kompletten Tag laufen (und gehen)." Das funktionierte dann ausgezeichnet (ich kam nach 10:24h an) und trotz einer lächerlich geringen Zahl von Trainings-Kilometern konnte ich diesen Lauf einfacher finishen als viele andere danach. Diese Methode schien mir daher recht geeignet, jetzt wieder bei dem 100Meilen-Versuch zur Anwendung zu kommen. Natürlich in leichter Abwandlung. "Bevor nicht mindestens 20 Stunden verstrichen sind, wirst Du nicht am Ziel sein. Du wirst den kühlen Morgen genießen, den wärmer werdenden Vormittag, während des heißen Nachmittags hoffentlich genug Schatten finden, dich im beginnenden warmen Licht des Abends auf die bevorstehende Kühle der einbrechenden Nacht freuen können. Du wirst mehrere Stunden im Dunklen laufen. Du wirst vielleicht warten müssen, bis es wieder dämmert. Du wirst ganz sicher ankommen, es wird nur lange dauern. Bleib einfach immer in Bewegung!"

Das kann hier kein Laufbericht werden. Soll es auch nicht. Aber dass dieser Lauf gelang, sogar besser gelang als je ernsthaft für möglich gehalten, lag neben einer wohl einigermaßen sachgerechten Vorbereitung (allerdings wurde keinerlei Trainingsplan verfolgt) vor allem auch am Erscheinen hilfreicher Geister zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Zunächst schon lange vor dem Rennen. Andere 100Meilen-Novizen, mit denen man die eigene Unsicherheit teilen konnte. Dann 100Meilen-Profis, auf die man etliche Male im Verlauf des Jahres bei anderen Veranstaltungen traf und die einem über den Leistungsabgleich und die Saison-Planung ungefragt Sicherheit vermittelten, nicht gänzlich auf dem falschen Dampfer zu sein. Gute Wünsche im Vorfeld von vielen nah- und nicht so nah Stehenden. Leute an der Strecke. "Was machst Du denn hier?" - "Ich will sehen, wie es Dir geht!" - Falk, Martin, Silvio und Sabrina - Danke! - für wie immer gelungene Fotos und die kältesten Weizen des Mauerwegs! Und das Ziel-Bier. Danke an alle, die mir vom Lauf vorgeschwärmt haben (am eindringlichsten tat das Frank während der 24h in Rüningen 2014 [während derer ich längst keine 100mi zusammen bekam, der nächtliche Schlaf war mir wichtiger]). Auch ich empfehle ihn weiter. Und sage und denke nicht mal direkt nach dem Ziel-Einlauf: "Nie wieder!" Bin viel zu neugierig auf die andere Laufrichtung. Den hügeligen Reinickendorfer Wald gleich zu Beginn. Mit wenig Ampeln. Überfüllte nächtliche Bürgersteige gegen Ende in Kreuzberg. Kreuzungen, an denen man froh sein wird, dass es eine Ampel gibt. Hoffentlich wird die nächste "rot" sein, damit man endlich wieder stehen bleiben darf. 

[Hier sollte eigentlich Schluß sein. Dann sind mir doch noch paar Sachen eingefallen]

Der Beginn des Mauerweg-Laufes im Uhrzeigersinn, also zunächst über Mitte mit Reichstag und Brandenburger Tor nach Kreuzberg mit Checkpoint Charlie, und dann entlang der East Side Gallery nach Treptow, ist mehr noch als der Berlin-Marathon zunächst ein wahrhaftiges Berlin-Sightseeing. Und man hat am frühen Morgen selbst diese Stadt noch fast vollständig für sich. Lediglich ein paar gejetlaggte Asiaten streunen schon herum.
Spätestens auf der 6km-Geraden entlang des Teltow-Kanals (km23-29) merkt man, ob es läuft. Es läuft! Die kumulative Pace sinkt kontinuierlich. Ich weiß, dass ich zu schnell bin. Der neben mir laufende Thomas auch. Aber was soll ich machen? Ich atme ja kaum! Spätestens ab km35 bin ich ziemlich im flow. Da steht Michael (guitar, vocals bei der Baltic Run-Abschlussfeier) am VP in Buckow und strahlt und ich strahle zurück, da kommt mir Falk entgegen, der will später noch den 2. Teil einer 2er-Staffel laufen und wartet auf "seinen" Startläufer. Ich überhole ununterbrochen. Ich höre mich laut sagen: "Dies wird dein geilster Lauf!" Km40, km50. Alle splits incl. VP-Zeiten (ich bin hoch konzentriert!) um die 5:30/km. I am just a running thing.

Dann der erste Dropbag-Punkt, VP10 bei km59 am Sportplatz Teltow. Und plötzlich ist der Bruch da: es geht nichts mehr, jedenfalls nicht mehr leicht, von einem Kilometer auf den anderen. Oft erlebt. Nie erklärbar. Oder ist der Körper während der 5 Tage des Baltic Runs doch zu sehr auf die ca. 60km/Tag geeicht worden? Will jetzt seinen gewohnten Feierabend haben? - Es muss mir egal sein. Es geht weiter, deutlich langsamer und schwerer als zuvor. Es wird wärmer, in der Sonne sogar heiß. Liegt es daran? Mit Sicherheit auch. Ruhig bleiben, sich mit den neuen Wahrheiten arrangieren. VP12 Griebnitzsee 72km, wieder mit Falk, der mir bestätigt, dass ich vorhin doch munterer ausgesehen habe. Danke, war nicht nötig! Aber besser als "du siehst gut aus!", wenn man weiss, dass es gelogen ist.

VP Griebnitzsee, Foto: Falk

In Glienicke fährt auf einmal Martin auf dem Rennrad neben mir her. Seine Frau hat heute Geburtstagsnachfeier. Und hat ihn sozusagen an die Strecke geschickt, weil alles andere ja eh Blödsinn wäre. Ich nutze dieses Glück, einen ungeplanten Supporter zu haben, hemmungslos aus und schicke ihn los, ein kaltes (und nur darauf kommt es an! - ich bin ja trotz der engen VP-Abstände mit einer Handflasche unterwegs) Weizen o.ä. an die Strecke zu schaffen. Wir haben jetzt ca. 28° im Schatten. Kein Problem, vorne steht ein Kumpel von ihm mit gefüllten Kühltaschen im Kofferraum. Danke Euch! - Hinter der Meierei schicke ich Martin erneut rein eigennützig wieder weg - auf dem Rad rollt er zwangsläufig oft etwas vor mir und ich merke, dass ich dadurch Gefahr laufe, zu überpacen. Und das ist hier -  bei Strecken-Halbzeit [juchhu - ich bin auf dem Brocken!] - absolut verboten.

Die lange Schleife um Krampnitz- und Jungfernsee. Gut 11km "Umweg", weil dies hier kein Öttilö-Wettkampf ist. Sonst wären es nur 200m durch's Wasser gewesen. - Aber da! Das ist ja Silvio, der mir entgegengelaufen kommt! Wow! - Ich liege weit vorne im Feld? - Kann doch gar nicht sein bei diesem Schneckentempo. Ja, wir sehen uns nachher bei 130km! - Ich muss mich auf den bevorstehenden 2. Dropbag-Punkt am Schloß Sacrow bei km91 konzentrieren. Dorthin habe ich die Nacht-Pflichtausrüstung (Lampe, Reflexweste) beordert. Sicherheitshalber. Jetzt ist zwar erst 15 Uhr und ich muss den Kram stundenlang umsonst mitschleppen, aber der nächste Punkt bei km128 war mir etwas zu planungs-unsicher. Ab 21Uhr muss man den Krempel am Mann haben (und tatsächlich wird es dann recht schnell dunkel und die Wälder da oben im Norden von Berlin sind stockfinster). 10 Minuten verbringe ich am Schloß. Klingt nach Pause, ist aber gefühlt das Gegenteil. Schuhe wechsle ich dann auch noch. Bisher Pure Connect, dann Pure Flow. Essen und Trinken geht ein bißchen unter. Ich bin objektiv ziemlich fertig. Und jetzt noch einmal die Rennsteig-Distanz! Nein, dieser Gedanke wird sofort wieder eliminiert. Jetzt ist es 15 Uhr. Und Du musst noch bis nach Mitternacht laufen. So sieht das aus. Wird gehen!

Was folgt, ist das große Sterben zwischen km90 und 130. Eben mal einen Marathon lang richtig leiden. Genau 5 Stunden brauche ich dafür. Immer wieder Geh-Einlagen. Das Handy (Pflicht, sonst hätte ich es nicht dabei und eingeschaltet) piept und klingelt. Daheim sitzen sie vor dem Live-Tracker, der jeden VP-Split zeigt. "Was ist los, warum bist du plötzlich so langsam?" - "Ich bin hier bei km104, und es ist heiß. Noch Fragen?" - Viel Wald, wieder edle Villen-Viertel, ein VP im Privat-Garten, dann Spandau und von Süd nach Nord durch die Abflug-Schneise von TXL. Ich hasse diesen Fluglärm im 30sec-Takt und bedaure die Menschen, die ihn hier in ihren Nicht-Villen täglich ertragen müssen. Ich kämpfe mich durch die eigentlich wunderschöne Strecke zwischen Falkenhagen und Henningsdorf. An den VPs kann ich fast nichts mehr essen. Schlecht! Es ist noch ein Marathon! Meine Zungenspitze hängt in Fetzen, wahrscheinlich zerfressen von der Cola. Über so viele Stunden mute ich ja auch sonst dieses Gift meinem Körper nicht zu. Du kannst verrostete Chrom-Stoßstangen und 10 Jahre nicht geputzte Klos damit wieder sauber kriegen! - Ich steige um auf Malzbier, das ich allerdings bei 30° Flaschentemperatur auch kaum noch runterkriege.

Endlich der 3. Dropbag-Punkt. Nur noch 34km. Dort wird mir Silvio wieder entgegen kommen. Mit einem kalten Weizen im Glas (!) in der Hand. Allein dieser Anblick - etwas Zivilisation in dieser Plastikbecher-Welt - motiviert mich. Wir wandern und laufen wieder ein Stück zusammen, bis er auf der Brücke über die A111 umdreht. "Wir sehen uns im Ziel!" - "Ja, das tun wir!" - Plötzlich laufe ich wieder, keine Gehpausen mehr. Ich laufe sogar wirklich, also nicht nur 8er pace. Ich laufe sogar die gar nicht so flachen Steigungen durch. Wow, das erlebe ich tatsächlich zum ersten Mal, ein come back während eines Laufs. Normal komm ich entweder gut durch oder das Sterben hält bis zum Schluß an. Bin ich bisher einfach immer nur zu kurz gelaufen? Nein, es ist wieder deutlich kühler geworden! Das muss es sein! Die Luft, die man atmet, hat dadurch eine ganz andere Dichte, ist mein Gefühl, kann ganz anders verwertet werden. Oh, ist das geil, nicht den Rest der Strecke wandern zu müssen, was ich lange befürchtet hatte.

Die Dunkelheit legt sich schneller und kompletter als erwartet über die Strecke. Es geht durch dichte Wälder, und ohne Lampe würde man nicht die Hand vor Augen sehen. Dazu alte, unebene Kopfstein-Pflasterung durchsetzt mit Wurzeln. Äußerst sturz-anfällig. Ich bin froh über meine Lupine, kenne die Akku-Laufzeit und gönne mir 2W-Flutlicht. Alles andere, was sie sonst noch könnte, ist Umweltzerstörung. - Die Kühle, der Mond, jagende Fledermäuse, ein OpenAir-Konzert eines deutsch-singenden Schlager-Sternchens, dessen Lieder phasenweise klar verständlich fast eine Stunde lang zu mir herübergetragen werden, die von der Stadt (wo versteckt die sich eigentlich, kaum 10km vor dem Ziel?) von unten schwach orange angeleuchteten Wolken, und dann - endlich! - Falk von hinten, nicht ganz so flott wie beim Trans Gran Canaria, aber doch wie immer beeindruckend - ich genieße tatsächlich diese Lauf-Nacht, nach über 140km. Weil sie kurz sein wird. Weil ich noch vor 1 Uhr im Ziel sein werde. Weil ich um 2 Uhr im Bett liegen werde. Weil der Plan aufgegangen ist. Weil auf den letzten paar Kilometern alles egal ist und ich nicht mehr um Minuten und Plätze kämpfe. Ich werde unter 19 Stunden bleiben, deutlich. Damit hätte ich nie gerechnet. Was wäre drin gewesen, wenn es kühler gewesen wäre? Egal. Mein Maximal-Ziel war sub20h (was bedeutet hätte, dass alles optimal läuft, was es ja gar nicht tat), mein Zufriedenheits-Ziel war sub24h (um den 100mi-buckle zu bekommen), das Minimal-Ziel war finishen, wozu ich 30 Stunden gehabt hätte. Jetzt bin ich fast da, und ich bin leer, und ich bin zufrieden mit mir.

(c) Catharina Linkenbach
Die Ziel-Runde durch's Stadion ist phantastisch. Alle 10m liegt eine andersfarbige Leuchtkugel auf der Tartanbahn. Wie eine Art spezielles Lande-Licht nach einem langen Flug, bei dem die Gefahr besteht, dass der Pilot eingeschlafen ist und wieder geweckt werden muss. Ich bekomme den Chip abgenommen und den ellenlangen Ergebnis-Zettel mit allen 27 splits in die Hand gedrückt. Das gibt es nur bei SportIdent! - 18:41h, 14. Mann, 2. AK, 4. Frau - was soll ich sagen? Das Finisher-Shirt ist einfach klasse, mit Motiven des Mauer-Künstlers Noir. Die Medaille gibt es erst morgen - nein, nachher! - bei der Siegerehrung am Nachmittag. Ich bin so froh, es geschafft zu haben, ohne dabei wirklich an die Grenzen gehen zu müssen und es am Ende nur noch zu erzwingen. Es tat natürlich weh, aber es hat funktioniert. Ich kann tatsächlich 19 Stunden laufen! - Silvio und Sabrina sind wieder da, haben ein Bier ohne und ein Bier mit dabei - unabgesprochen meine Lieblingssorte, beide kalt. Ich darf es mitnehmen, für unter der Dusche.

Ja, und auch die Siegerehrung ist noch mal ein richtiger Höhepunkt, und es stört mich kein bißchen, dass sie fast 3 Stunden dauert, und ich wundere mich diesbzgl. ein wenig über mich selbst. Aber die Art und Weise, wie uns hier durch mehrere Grußworte namhafter Menschen noch einmal in Erinnerung gerufen wird (als ob dies nötig wäre!), dass der Mauerweg-Lauf mehr ist als eine Lauf-Veranstaltung, ist sehr berührend. Und die Moderation von Hajo und vor allem Alex, die alle ca. 250 Finisher namentlich auf die Bühne bitten, nachdem sie zuvor schon die Staffeln "abgefertigt" haben, ist vor dem Hintergrund, dass die beiden keine Minute geschlafen haben, eine Meisterleistung. Am Ende steht Hajo kurz in dieser typischen Haltung da, die Erschöpfung und Zufriedenheit gleichzeitig ausdrückt - sich nach vorne übergebeugend mit beiden Händen über den Knien auf die Beine abstützend - so wie ich vorhin im Ziel stand. Auch er ist jetzt am Ziel.

(c) Claudia Tetzlaff

Ich danke allen Beteiligten sehr herzlich für die Verwirklichung dieser großartigen Veranstaltung, die als ein (100)Meilenstein in meine Lebenslaufgeschichte eingehen wird.


Sonntag, 3. Juli 2016

ThüringenUltra 2016 - Was hat die Zeit mit uns gemacht?

Drei "Laufberichte" zum selben Event? Gab's noch nie, muss aber sein.
(eher technische Details für tU-Ahnungslose gibt es in Episode I und Episode II)

Schon 300m vor dem VP95 (der dieses Jahr eher bei km97 stand, weil wohl Holzfäller hinter Sondra am machen waren und uns Gunter später noch etwas mehr von dem glatten Asphalt der alten Bahnstrecke runter nach Floh-Seligenthal gönnen wollte - durch diesen tiefen schluchtartigen Einschnitt mit der verwegenen Brücke drüber [können wir da nächstes Jahr nicht vorher auch noch drüberlaufen?]) wummerten die Bässe zum Intro meines Wunschliedes los. Es war ein so unglaublich perfektes Timing: Exakt zum ersten Refrain erreichte ich die hübschesten Damen Thüringens und konnte heftig(st) gerührt mitschmettern: 
"Was hat die Zeit mit uns gemacht?"

Wahrscheinlich eher ein atypischer Song für diese Stelle, wo die meisten irgendwas mit 180bpm auswählen, um sich für den schmerzhaften Rest der Strecke zu pushen. Mein Gefühl dort ist aber "oft" (wenn ich das als 3-Sterne-tU-Youngster mal so sagen darf) eher etwas melancholisch (die restlichen km schafft man von hier auf jeden Fall auch auf den Brustwarzen [oder im äußersten Notfall mit Haralds Hilfe]): "Schade, der tU ist schon wieder so gut wie vorbei! - Schon wieder ein Jahr warten!" Warten auf dieses unglaublich wohltuend-entspannende Ambiente der Gesamtveranstaltung, auf die mit Zelten zugepflasterte Streuobstwiese im Sonnenschein, keinen Krach, auf die kleinen Klönrunden beim Bier (mit und ohne), die sich dort schnell und zwangsläufig bilden (Tach Udo, tach Falk, tach Andreas, tach Harald, tach Carlos, tach alle, die auch endlich mal die BC mitlaufen wollen, moin Hermann, moin Axel, hi Martin & Leo, nix hi Dude - we all did miss you a lot! - Micha, Roman, Hubertus - kommt doch mal früher, ihr könnt doch auch mal hier nicht schlafen!), auf dieses seltene "Ferien-auf-Saltkrokan-Alles-Ist-In-Ordnung"-Gefühl (zugegeben, dieses Gefühl wird unter Umständen später kurzfristig auch mal unterbrochen, wenn man im Rennen schon wieder einen "letzten" Hügel nicht mehr auf dem Schirm hatte).

"Was hat die Zeit mit uns gemacht?"
Mit mir an diesem Lauftag, mit uns in unserem Läufer-Leben?
Der Song ist ja nun zweifelsohne ein (besseres) Liebeslied, aber Liebe ist Leben und Leben ist Laufen und Laufen ist Liebe, und deswegen passt zwangsläufig (wie in vielen Liedern) viel Text zum Laufen (auch wenn er dafür manchmal ein ganz klein Wenig aus dem Zusammenhang gerissen werden muss ...).

An diesem Tag haben mich die knapp 11 Stunden seit dem Startschuss von pace 5:30 auf pace 6:30 entschleunigt. Die abends gegenüber dem Morgen tieferen Gesichtsfalten rühren neben der unvermeidlichen leichten Dehydrierung (nein - liegt nicht an den VPs!) eher vom häufigen Grinsen, das einem die vielen Kilometer, VP-Gespräche, Meilen-Läufer-Überholungen usw. ins Gesicht schnitzen (sieht man auf keinem Bild? Ist ja bekanntlich auch eher innerlich, mein Grinsen ...). Und natürlich: Der alte Ultra-Spruch, wonach einem am Ende was anderes weh tut als am Anfang, bewahrheitete sich einmal mehr.
Was die Zeit mit mir in den letzten Jahren gemacht hat - nee, das wird dann wohl besser mal ein separater post (z.B. zum 10jährigen Jubiläum des Beginns meines Laufens am 1.10.2016). Nur so viel: Ich hab inzwischen gelernt, wo ich läuferisch "hingehöre", und das ist nicht Biel (zu groß, zu dunkel, zu flach) und nicht der ZUT (zu groß, zu laut, zu steil). Und ich weiss, dass es nach einem 100er-DNF auch immer wieder ein 100er-Finish gibt (und dafür muss inzwischen fast "traditionell" der tU herhalten).

"Wir sind doch nicht so wie die andern"
Nee, sind wir nicht! Wir stehen um 3 auf, um um 4 loszulaufen, so ca. 10-15 Stunden lang. Oder gleich gar nicht zu schlafen und uns schon am Abend an die 100 Meilen zu machen. Einige starten da wirklich im Tiefstart. Schlafentzug soll eine gute Verhütung posttraumatischer Komplikationen sein. Lebt Ihr denn alle so gefährlich? Um 6:15h wird der schlafende Wald um das schlafende Ruhla per Mikrofon und Verstärker über die Einlaufreihenfolge am dritten VP informiert. Unterwegs trinken wir Brüh-Cola und futtern Schokoriegel mit Salami. Nach dem Lauf fallen wir beim Hose ausziehen einfach um und nehmen zur Getränkeausgabe die Rollstuhlrampe statt der zwei Stufen. Und dann hängt auch noch die Medaille in die Suppe. I love you all!

"Der Himmel über uns, früher war der blau."
Ja, nachts beim Klogang glänzten noch die Sterne. Dann wurde es grau und grauer. Bis auf diesen irren Moment auf der Wiesenquerung vor VP2, als die Flanken des Inselsberges durch irgendein unsichtbares Wolkenloch von der aufgehenden Sonne in einer Weise krass beleuchtet wurden, dass man mit offenem Mund hätte stehen bleiben und mal in Ruhe staunen müssen, hätte man sich nicht in einem Rennen und auf einer wichtigen Mission befunden - sub11h (aber so wichtig war das letztlich auch wieder nicht - was hab ich gestaunt!).

"Der kalte Wind treibt uns nach Norden." 
Man glaubt es kaum: Während wir hier in den Vorjahren buchstäblich gegrillt wurden, sinkt (!) bemerkenswerter-, aber genau so angekündigterweise die Temperatur über den Tagesverlauf von ca. 18° auf ca. 14°. Die Privat-VPs im nordwestlichen Randbereich von Tabarz und dann in Hörsel (vgl. Episode I) machen diesmal wohl eher bescheidenen Umsatz, können aber als sicheres Indiz dafür genommen werden, dass diese Metropolen weiterhin bewohnt sind (denn leere Freibäder gibt es hier bekanntlich ja auch bei 38° und nicht nur heute, vgl. Episode II). - Die 100Meiler schwärmen von der "lauesten und geilsten Nacht ever", die 100km-Leute freuen sich wieder über das Nicht-Frieren am Start. Ganz mutig - nein, vermutlich doch etwas unvernünftig - stelle ich mich trotz instabiler Wetterlage mit genau 4 Kleidungsstücken an den Start (Kurzarm-Shirt, Short-Tight, linker Socken, rechter Socken, na gut, und Schuhe [Brooks Pure Flow4]). 2 Riegel noch. Klopapier - klar! - Kein Rucksack, keine Flasche, keine Regenjacke. Zur Sicherheit gibt es ein dropbag mit allen diesen Sachen bei km55 [aber ich habe nichts davon angerührt]. Dieses Gefühl, einen 100er ohne Gepäck zu laufen, ist einfach nur geil. Und nur möglich, weil der tU 18 bestmotivierte VPs auf die Beine stellt und nur am Anfang (egal) und einmal in der Mitte (aber mit viel bergab, kann sein, dass man da sogar mal Falk [temporär] überholt) mehr als 6km zu überbrücken sind. Finsterbergen macht zwar seinem Namen alle Ehre und schickt die dunkelsten Regenwolken auf uns los (und halt wieder Falk), aber die Balance zwischen Regenkühlung von außen und Schweißnachschub von innen bleibt immer erhalten, sodass ich (Frostköttel vor dem Herrn) dieses Schmalspurequipment-Experiment unbeschadet überstehe. Mein Klopapier ist irgendwann alle (diesmal keine Wadenkrämpfe im Splittergrund, sondern ...). Aber die Damen am nächsten VP haben Küchenrolle. Verstehen freilich nicht, wieso ich nicht lieber ein Schmalzbrot nehme.

"Da ist die letzte Bar, ist der letzte Drink"
(c) feierspion.chayns.net
Klar, das ist VP95, und wer ihn nicht erlebt hat, hat ein langweiliges, bedauernswertes Leben geführt. Nicht nur, dass die das da überhaupt mit den Wunschliedern hinbekommen, was bedeutet, dass stundenlang irgendwelche fernglas-bewaffneten Späher nach den oft nicht vorne getragenen Startnummern Ausschau halten müssen - ich höre mir auf den letzten Metern auch noch meine ganze tU-Geschichte an und dass ich letztes Jahr ja wohl erst eine Stunde später hier war. Stimmt - woher wissen die das? tU-Läufer: Benutzt Sicherheitsnadeln, vorne! (Dann kommt man auch nicht auf zeit-raubende Gedanken wie Hemdwechsel usw.)

"Wir sind doch beide vom selben Stern!"
Hier irrt Udo erstmalig. Hier ist keiner vom selben Stern (oder das Universum ist doch ein einziger großer). Jedenfalls nicht, wenn er das Ziel erreicht hat. Dann hat er nämlich einen mehr auf dem Trikot. Und Stern ist nicht gleich Stern. Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich 2016 mit 2015 vergleiche. Das eine war ein höllenrittnaher Glutstern, der jetzige fand auf einem sehr erdähnlichen Trabanten mit menschenfreundlichen Umweltbedingungen statt. Nur die 100 Kilometer waren auf beiden (fast) gleich lang.

tU 2016 vs. tU 2015


"Aller guten Dinge sind drei." Das wäre normalerweise jetzt hier wohl der passende Schlusssatz.
Aber nicht beim tU!
Nächstes Jahr wird es vielmehr wieder heißen:

"Auf dieser Autobahn, lass uns nicht weiterfahrn.
Die nächste Ausfahrt hier - ey komm die nehmen wir."


Klar - Waltershausen (bei Fröttstädt)!

Danke an alle!
Es war ein Ultra-Fest.

beim Baltic Run ist es dann die 67. Reiner Zufall.

Montag, 2. Mai 2016

WHEW - Wunderschöne Hundert, etwas wässrig

Was kommen wird, scheint wenig utopisch:
In nicht allzu ferner Zukunft wird es einen Lauf auf der Trasse der ehemaligen Wuppertaler Schwebebahn geben (die im Jahr 2027 wegen zu hohen Aufwands beim Entrosten der Millionen Eisenstreben stillgelegt werden wird). Dann, spätestens dann, wird Wuppertal über das endgültige Alleinstellungsmerkmal in der Laufszene verfügen. Bis es soweit ist, müssen wir notgedrungen mit der aktuellen, keinesfalls weniger spektakulären Alternative leben: dem WHEW 100km-Lauf über die bereits abgewickelten normalen (Neben-)Bahnstrecken in und um Wuppertal (obwohl: wenn man sich den aktuellen Zustand des sog. Wuppertaler Hauptbahnhofs ansieht, könnte man meinen, auch die Aufgabe der Haupttrasse stehe unmittelbar bevor. Ein ICE-Bahnhof, an dem du Sonntag morgens nicht mal einen schlechten Automaten-Kaffee bekommst - einzigartig!) und zwischendurch auf alten Leinpfaden die Ruhr zwischen Hattingen und Essen entlang. Insgesamt: Malerisch! Selbst bei diesem Mistwetter.


Was müssen die Leute stolz gewesen sein, als sie 1883 den Tunnel "Schee" eröffneten. Ein Bauwerk für die gefühlte Ewigkeit! Jetzt, keine 150 Jahre später, kann er von Glück sagen, dass es weitblickende, vielleicht sogar visionäre Menschen gab, die die Umwidmung der Nordbahn in ein Paradies für Radler, Läufer, Inlineskater und Spaziergänger betrieben und den Erhalt der Gesamttrasse gegen neuzeitliche Interessen wie z. B. ausufernde Gewerbegebiete durchgesetzt haben. Ich bin also schon ziemlich geflasht, als ich nach 13km durch sein Südportal laufe. Bis dahin liegen bereits mehrere Brücken, Tunnel und ehemalige Stadtteil-Bahnhöfe (praktisch: VP direkt an der Bahnsteigkante!) im Starkregen bei 5°C hinter mir. Und ein wenig Steigung. Steigung, die (noch) nicht weh tut, denn hier verkehrten ja keine Zahnradbahnen, und so dürften es nie mehr als 3% oder 4% Neigung sein, auf denen wir unsere Höhenmeter heute sammeln. Ein wahrhaft laufbarer Lauf. Der aber auch gerade deshalb richtig weh tut. Steile Rampen, die als willkommene Entschuldigung für Wanderpassagen herhalten können, sind Fehlanzeige (vllt. mit Ausnahme der 50m hinter dem Viadukt vor dem "Einstieg" auf die Panoramaweg-Trasse der ehemaligen Niederbergbahn bei km 64). Also laufen, laufen, laufen. Ohne Gnade.

Es beginnt in der Utopia-Stadt. Schon wieder Visionäre! Das etwas heruntergekommene, aber reichlich spröden Charme verströmende Bahnhofsgebäude Mirke ist das Veranstaltungszentrum mit Start und Ziel. Keine 200m entfernt das Massenlager in einer sanierten Altbau-Schulturnhalle, zu der uns RaceDirector Guido höchstpersönlich rüberführt. Massenlager ist relativ: 12 Leute in der Nacht vor dem Lauf, 3 in der Nacht danach. Die meisten scheinen hier (noch!) aus der Region zu stammen und kurze Anfahrtwege zu haben. Kurzum: Es ist schon fast zu ruhig in der Halle (ich muss an die hunderte Schnarcher denken, die sich parallel gerade wieder in Wernigerode rumwälzen werden). Die Bewegungsmelder, die das Deckenlicht steuern, sind auch schnell stillgelegt. Ich wache tatsächlich erst um 5.30h vom Wecker auf.

Mein 5. Finish beim 7. Hunderter soll es heute geben. Offensichtlich ist diese Distanz für mich also weder mit nennenswerter Erfahrung unterfüttert noch ein Selbstläufer. Und diesmal trotzdem nicht viel mehr als sozusagen "another brick in the wall", nein, genauer: "for The Wall", den Mauerweglauf im August in Berlin, nach aktueller Planung mein erster und letzter Hundert-Meiler (denn danach höre ich ja auf).

Kein Selbstläufer also. Daraus folgt: Gute Vorbereitung ist angeraten! Im Allgemeinen und Speziellen. Im Allgemeinen bedeutet, ausschließlich auf bewährtes Equipment, das man sozusagen im Schlaf bedienen kann, zurückzugreifen. Aber es muss auch die an dem konkreten Tag für die konkrete Strecke passende Ausrüstung sein. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Temperatur, Niederschlag, Wind - diese 3 Komponenten analysiere ich die ganze Vorwoche auf verschiedenen Portalen - mit zunehmend grauen Haaren. Und letztlich wurde nirgends auch nur annähernd die Regendichte vorhergesagt, die dann tatsächlich über uns hereinbrach, aber immerhin stimmten Temperatur (6°-9°C) und Wind (fast windstill). Jedes unter den gegebenen Umständen überflüssige Gramm bleibt zu Hause, was einfach ist, wenn man nur mit einem Rucksack mit der Bahn unterwegs ist. Zur zielorientierten Vorbereitung zähle ich inzwischen auch ausschließliche Eigenverpflegung am Abend und Morgen vor dem Lauf. Der kleine Wasserkocher für den Yogi-Ingwer-Tee ist Pflicht. Und frühzeitiges Beinehochlegen, so gegen 19h. Egal, wie lange man dann noch wachliegt, Hauptsache liegen. Merkwürdige Vorstellung, "nachher" evtl. so lange unterwegs zu sein, wie man jetzt noch zu schlafen hat.

Dann kommt das Spezielle, der Lauf im eigentlichen Sinn. Markierung oder GPS-Navigation? Wieviele Höhenmeter wann wo und wie steil? Wo liegen die VPs, was gibt es da? Gibt es Dropbag-Punkte? Will ich mir unterwegs wirklich klitschnasse Klamotten runterzerren, mindestens 5 Minuten verlieren, nur um 10min später wieder in klitschnassen Klamotten zu laufen? Nein, das spar ich mir. Lieber mit Rucksack laufen und völlig autark sein. Geht ja sogar bei der BC. Meine beste Eingebung war, vor der Abreise noch mal etwas im Netz zu stöbern. Bei Udo findet man in seinem gewohnt lesenswerten Bericht von 2015 einige elementare Aspekte, z. B. die nicht enden wollende Steigung zu Beginn des letzten Streckendrittels, in Christophs Video sieht man die Flatterbänder, die es im Auge zu behalten gilt und wie man aus der Wäsche guckt, wenn man doch eine Ehrenrunde über 6km absolviert hat. Also hämmere ich mir ein: Längster VP-Abstand 11km (zwischen 50 und 61 [oder 58?]), 14k hoch, 14k runter, 35k flach, 17k(!) hoch bis km81, erst dann bist du oben, erst dann!, und wellig weiter bis ins Ziel. Und immer an den Ruhr-Brücken aufpassen, da muss man manchmal die Seite wechseln und manchmal nicht.

Wenn ich nicht letztes Jahr im Juni beim ZUT bei noch etwas irreren Verhältnissen in den gleichen (wenigen) Klamotten am Start zu einem 10 bis 12stündigen Abenteuer gestanden hätte, welches ich dann wohlbehalten überlebte - mir wäre wohl etwas mulmig geworden kurz vor 7Uhr am Mirker Bahnhof. Alles verkriecht sich unter die aufgebauten Zeltdächer oder gleich ganz in die warmen Bahnhofs-Hallen. Bis 2min vor dem Start steht niemand auf der Strecke. Stimmt - beim APUT 2014 war das auch so. Wann bin ich eigentlich zum letzten Mal in Sonne und Wärme gelaufen? Ach ja, beim TU 2015 haben wir nicht gefroren ...

An dieser Stelle, wo wir die letzten Minuten vor dem Start eh nur unnütz rumstehen, mal ein Wort in eigener Sache: Wieder passiert es einige Male vor, während und nach dem Lauf, dass der eine oder die andere freudestrahlend auf mich zukommt und wohl zurecht erwartet, zumindest mit dem Namen angesprochen zu werden, aber mich nur ratlos bzw. leicht verschämt nach dem Namen auf der Startnummer schielen sieht. Müsst ihr euch nichts draus machen, ist auf keinen Fall persönlich zu nehmen. Ist so bei mir. Im Zweifelsfall erkenne ich Menschen eher am Auto (von daher war klar, dass Olli vor Ort sein musste) bzw. noch eher an dessen Nummernschild. Und auch wenn mir jemand noch vor 2 Wochen beim Nudelnfuttern gegenüber saß, ist das keine Garantie für spontane Wiedererkennung. Ist einfach so. Nach dem 4. oder 5. Mal besteht allmählich eine Chance auf dauerhafte Verankerung in den unergründlichen, bestimmt schon leicht verplaqueten Gehirnwindungen. Raimund, Steffen und Fraggle haben offenbar ausreichend Geduld aufgebracht, Olli steht kurz vor dem Aufstieg und bei Sascha wird das auch schon noch werden. Guido würde ich glaub ich wiedererkennen, Ausnahmen bestätigen eben immer die Regel.

Ich glaube, der WHEW ist seine Idee und sein Werk. Wenn's nicht stimmt, sorry. Und wenn's stimmt: Glückwunsch! Und: Na klar helfen da auch noch ein "paar" Andere mit (der Ratio Läufer vs. Helfer dürfte aktuell noch ungefähr bei 1:1 liegen)! - Auf jeden Fall verströmt die Veranstaltung eine äußerst sympathische Gesamtatmosphäre und nicht zuletzt fällt das durchgängige, ansprechende Corporate Design ins Auge. Da waren Profis am Werk. Das verbreitete Grau des (erweiterten) Ruhrpotts, durchzogen von schmalen grünen Pfaden? Oder andersrum: Die grünen Grasränder rechts und links des hellgrauen, babypopoglatten Superasphalts der Nordbahnstrecke!? Ich verkneife mir das T-Shirt noch, für nach dem Finish. Bin geringfügig abergläubig. Deswegen leihe ich mir auch keinen Tracker, der den Daheimgebliebenen "an den Geräten" meinen potentiellen Niedergang ungeschminkt zum Kaffeetrinken servieren könnte.

Foto: Wolf Birke

Und los! Puls: Ganz unten. Darmfüllung: Am Anschlag. Mein ganz privates Thermofensterproblem.
Nach 3km weiß ich, mit wem ich heute nicht tauschen möchte: Den Run&Bike-Teams! Einigermaßen warm gelaufen irgendwann auf's Rad wechseln wollen und dann bei 5° in der Schüttung ein leichtes Gefälle runterrollen müssen - dem sicheren Gefriertod entgegen. Ich beobachte einige Wechsel (natürlich im Trocknen in Tunneln oder unter Brücken) und sehe, dass die sich da fast alle jeweils komplett umziehen. Nicht mein Ding. Lieber laufen! Nur Laufen - das ist hier so einfach wie selten. Das Gelände kann hügelig sein wie es will - du schwebst drüber und drunter durch! Kilometerlang nicht die kleinste Stolpermöglichkeit, du kannst (endlich mal) beruhigt rechts und links und von den vielen Brücken runterschauen, du findest deinen Rhythmus. Wenn nicht hier, dann nirgends. Schnell fühle ich mich selbst als Vorortbahn, die diese unzähligen Wuppertaler Ortsteile mit ihren Haltepunkten abklappert und insgesamt wohl durch 7 oder 8 Tunnels (teilweise mehrere hundert Meter lang) und über unzählige Viadukte tuckert. Da, wo es mal Bahnübergänge gegeben haben mag, stehen hilfreiche orange Männchen mit weißen Helmen, die natürlich sofort an Playmobil-Figuren erinnern und das aufkommende innere Bild, hier als Zwerg auf einer Modelleisenbahnanlage unterwegs zu sein, nur noch weiter verfestigen, und halten die Autos an. Dann immer wieder tiefe Geländeeinschnitte, die einen komplett von der doch recht stark bebauten Landschaft abschirmen und den Blick auf die Kleinigkeiten wie die moosüberwucherten Stützmauern oder alte Kilometersteine schweifen lassen.

Gutes Stichwort. Kilometerstein. Was sagt denn das GPS? Bei km 10 herrscht noch totale Einigkeit mit der Streckenfahne, obwohl wir schon durch 2 Tunnel sind und da drin Satellitenempfang natürlich ein Fremdwort ist. Wenn man wieder rauskommt, malt "das System" in Gedanken wohl eine gerade Linie zwischen die beiden Tunnelportale, was sonst. Aber es gibt eben auch kurvige Tunnelverläufe. So kommt es wohl im Laufe der Zeit bzw. absolvierten Strecke zu leichten Abweichungen zwischen meiner Uhr und den Markierungen. Am Ende genau 1km (ein Prozent, was ist das schon?), wobei noch eine Mini-Ehrenrunde und ein Ausflug in die Büsche abzuziehen sind. Neben der Streckenmessung ist aber vor allem die Ermittlung der Höhendifferenzen auf dieser Route, die ja immer wieder nicht auf der eigentlichen Erdoberfläche verläuft (Tunnel und Brücken und sehr schmale Geländeeinschnitte, die in einem gerasterten Geländemodell evtl. auch untergehen), nicht gerade trivial. Eigentlich macht da nur ein Barometer Sinn (aber wie ist das mit dem Luftdruck im Tunnel, die Temperaturen weichen jedenfalls ziemlich ab). Der Veranstalter postuliert knappe 500 Höhenmeter. Mein korrigierter Track kommt auf das Doppelte. Nicht überraschend: Ein Tunnel geht gemeinhin durch einen Berg. Der Track der Verbindungslinie zwischen Einfahrt und Ausfahrt somit oben drüber. Und bei den Brücken ist es umgekehrt. Da sammelt sich einiges (nicht tatsächlich Gelaufenes) an.

Eine Einschätzung in diesem Zusammenhang, die ich mir schon vorher (siehe Vorbereitung) ausgemalt hatte, bewahrheitet sich: Nicht die gleichmässigen, sehr moderaten Uphills werden die alleinige Herausforderung, auch die 35 topfebenen Kilometer ab km 30 die Ruhr entlang wollen erstmal gelaufen sein. Schritt für Schritt - keiner geht von alleine. Und das nach der Distanz, nach der man sonst meist die Laufschuhe wieder auszieht. Was mich am Leben hält: Wir haben 30k in den Beinen, die TorTouristen kriechen hier in 2 Wochen nach 170k lang, auf ihrem 230km langen Nonstop-Weg der Ruhr von ihrer Quelle bei Winterberg bis zur Mündung in den Rhein bei Duisburg folgend. Mein Beileid und meine Bewunderung ist ihnen bereits jetzt sicher.

Topfeben? Nicht ganz. Da sind zum einen enorme Berge von (glitschigen) Gänseschissen, über die man drüber muss. Wir laufen wirklich nur 50cm neben dem Wasser (das über weite Strecken nur wenige Zentimeter unter dem Niveau des Weges steht) und die Viecher sitzen in Rudeln auf den Wiesen nebenan und grasen. Aber da machen sie wohl schlauerweise nicht hin, und ins Wasser auch nicht, bleibt also nur der Uferweg. Der ist dann zusätzlich zunehmend von riesigen Pfützen bedeckt, die man teilweise über die völlig durchweichten Bankette umgehen muss - mit profillosen Straßenschluffen nicht ganz ungefährlich, wie ich merke. Bloß keine ruckartigen, ungewohnten Ausweich-Bewegungen - akute Krampfgefahr!

Zum anderen müssen wir ein paar Mal die Talseite wechseln. Dazu geht es meist spiralmäßig über Rampen auf die Brücken hoch. Das sind die prädestinierten Stellen, um sich beim WHEW zu verlaufen: Geradeaus weiter geht immer! - Ich hatte mich so auf den späteren Punkt bei km 62, wo man das Ruhrtal insgesamt wieder verlässt, und wo es Christoph letztes Jahr erwischte, konzentriert, dass ich von Glück sagen kann, dass jemand bei km 40 hinter mir herbrüllt, als ich gleich die erste Brücke als Richtungsänderungsmöglichkeit ignoriere. Immerhin habe ich nicht einfach nur geträumt, vor mir läuft ja noch einer (auch falsch) und ich habe nach Markierungen Ausschau gehalten (und keine gesehen, was einen an solch einer Stelle immer erstmal zum Anhalten zwingen sollte). Aber die Flatterbänder machen witterungsbedingt ihrem Namen teilweise gar keine Ehre und kleben nass an ihrem Pfahl oder Geländerpfosten. Die zusätzlichen Bodenmarkierungen sind auf der ersten Streckenhälfte komplett Opfer des Regens geworden und nichts mehr als neckische grüne (!) Flecken auf dem grauen (!) Teer: "Na, was meinst Du, in welche Richtung hab ich mal gezeigt?" - Es geht alles gut, ich bin jetzt wach und rette meinerseits noch ein paar [angeblich ortskundige] Teilnehmer vor dem buchstäblichen Weg zurück - ins sichere Verderben.

Pünktlich zur Halbzeit muss ich einen innerlichen Systemumschwung feststellen. Von "alles gut" auf "komisches Gefühl im Magen" innerhalb weniger Minuten - nicht ganz neu! Zu viel gegessen? Eher zu wenig. Also nach den bisherigen (Frucht)-Riegeln mal auf Gel wechseln. Hat beim TAR gut funktioniert. Heute aber gar nicht. Innerhalb von einer Minute wird mir (kotz)übel. Sofort läuft der Negativ-Film ab: Den Rest wandern, zermürbendes Durchquälen über den verbliebenen Marathon, wie schon öfters, nie muskel- oder kraftbedingt, immer wieder nur ernährungstechnisch, wie auch bei den zwei 100er-DNFs in Biel? Oh, das bitte nicht noch mal! - Stop! Das läuft heute anders! - Ich gehe. - Bei km55 auf ebener Strecke. Puls runter holen. Atmen. Die Minute, die du hier verlierst, wird dich nicht umbringen. Die neue PB war zur Halbzeit möglich, ist hier aber nie das Ziel gewesen. Das einzige Ziel ist hier, "gut" durchzukommen, optimalerweise im Laufschritt. Sub10 im Auge behalten, maximal, ok, so lange es Sinn macht. Spartathlon-Quali! (Was ist das jetzt wieder für ein Spuk?) - Ich trabe ganz langsam an, 500m weiter kommt doch noch der "etwas" überfällige VP58k. Ich steige um, von Cola auf Malzbier. Ruhig weiter. Es geht, nein, läuft wieder.

Ein paar unangenehme Meter auf Straßen durch die Bebauung, dann durch ein enges Viadukt, die Rampe dahinter hoch - und auf kann es gehen, zur final attac! - Gut 17km sanft, aber unerbittlich bergauf. Endlose Geraden, endlose Kurven, Udo hat es wirklich perfekt beschrieben. Die Wahrnehmung, dass es nicht mehr höher gehen kann, weil: da ist ja nichts anderes mehr als Himmel am Horizont!! - Aber es geht weiter rauf, weiter rauf. Na klar, ich bin ja auch noch nicht bei 81k! Wusste ich doch, weiss ich doch, es stimmt eben einfach, Blödmann! Hör' auf, zum Horizont zu starren! Höre das Konzert der Vögel (ich meine jetzt nicht die metallenen im Anflug auf Düsseldorf, die leider etwas nerven). Lausche dem Konzert einer der SoundBikes, die sich alle paar Kilometer nach einem Pläuschchen am VP wieder von hinten nähern. SoundBike? Diese Art Lastenfahrrad mit dem abgesenkten Lastenabteil vor dem Fahrer. Da steht dann ein ca. ein Kubikmeter großer Wummerkasten drauf, natürlich drahtlos mit irgendwelchen Servern vernetzt, von denen lauffähige Mucke gestreamt wird (war das jetzt richtig?). Die wird real am Mirker Bahnhof live vom Vinyl in den Äther geschickt, sehe ich später im Ziel. So Reggae-Dub-Style etc., es wummert eben verhalten vor sich hin und hat damit den für einen 100er passenden Rhythmus. Bin aber doch froh, das nicht 10 Stunden am Stück hören zu müssen.

Jenseits von km 65 nehme ich außer 3 Blaubeeren, 1 Erdbeere und 5 Salzstangen nichts Festes mehr zu mir. Ich trinke abwechselnd Cola und Malzbier. Links Malzbier, rechts Cola. Malzbier ist süß im normalen Leben. Aber direkt nach einem Schluck Cola schmeckt es herb wie ein Pils. Die rechte Cola-Flasche hat nach dem Lauf die Getränkefarbe angenommen, die linke Malzbier-Flasche nicht. Überleg mal, was das für deinen Magen bedeutet, wenn sich das Zeug offenbar in das bestimmt nicht sehr minderwertige Plastik der UD-Flaschen frisst!! - Ich steig um auf Malzbier!! - Die Erkenntnisse während eines Ultras sind immer wieder umwerfend lebensrelevant.

Die Pace geht kontinuierlich in den Keller. Ich versuche, zu rechnen, Richtung Zielzeit sub10. Geht nicht. Ein gutes Zeichen! Es werden offenbar keine Energien mehr nicht für's Weiterkommen (kann man das noch Laufen nennen?) eingesetzt. Ein paar unruhige Kilometer zwischen 90 und 95km, mit den insgesamt steilsten Abschnitten, weil wir hier nicht mehr auf der Bahntrasse sind, sondern an normalen Straßen langlaufen. Bergauf kurze Geheinlagen. Macht nichts. Wird funktionieren. Bei km 94 betreten wir endlich wieder die rettende Trasse. Letzter VP. Home Run! Babypoposchlurfasphalt! Gegenwind. Keep going! 2 Tunnel noch. Gleichnamiger Blick, nicht nur da drin. Der rote Zielbogen. Ich bin wirklich wieder da, 9:51h - das Ding ist im Sack. Und ich lebe noch einigermaßen.

Foto: Alexander Maus, VP 94km
161km? - Ja, halte ich irgendwie für möglich. Da muss ich ja keine Zeiten jagen. Gar nicht viel langsamer laufen (das kommt von alleine), nur mehr Zeit mit Futtern an den Stationen verbringen. Die Schmerzen werden ja so ab 55/60k eigentlich nicht mehr schlimmer. Ich hoffe mal, dass das jenseits von 100k auch noch eine Weile gilt. Werden wir sehen.



Screenshot: whew100.de





Dienstag, 29. März 2016

(F)OOLS 2016: ein bißchen rumloopen

Warum haben die Ostfriesen ein langes und ein kurzes Bein?
Damit sie besser im Kreis laufen können.


Wie soll das einer verstehen: Beim legendären "Ossiloop" sind die Leute keineswegs auf Runden, sondern auf A-nach-B-Strecken unterwegs. "Loop" (sprich: [lo:p]) heisst also auf Platt wohl doch nur "Lauf". Für mich als nunmehr bekennenden FOOL (Freund der Ostfriesischen Oster-Laufserie) bezeichnet "loopen" (sprich: [lu:pn]) aber spätestens ab jetzt das Kreiseln auf Rundkursen (und auch eine Wendepunkt-Strecke ist ja eigentlich nichts anderes als eine etwas stärker zusammengequetschte Rundstrecke).

Die Ostfriesische Oster-Laufserie (OOLS) der Ultrafriesen e.V. ist das, was sie verspricht: Eine Laufserie zu Ostern in Ostfriesland. Also 3 Faktoren, die die Teilnahme zu etwas Besonderem machen:
1. Laufserien sind gut, um Kilometer zu sammeln und für in diesem Jahr noch folgende Laufserien zu trainieren. Laufserien ohne Höhenmeter auf Asphalt sind noch besser, wenn man sich dieses Jahr im Wesentlichen auf Veranstaltungen mit dieser Charakteristik konzentrieren will. Und Laufserien auf reichlich unspektakulären Runden von 5,3km (versöhnende Ausnahme: die idyllischen 2km am Berumerfehnkanal entlang bei #3) stärken bestimmt auch das Mentale (oder heißt es: die Mentalität?)
2. Es herrscht offenbar Uneinigkeit in der Bevölkerung, wieviele "Ostertage" es denn nun gäbe. Die empirische Mehrheit der Befragten antwortet mit "4", eher bibelfeste Kandidaten mit "2". Die Ultrafriesen gehören zur Mehrheit und somit werden 4 (verschiedene) Marathons von Karfreitag bis Ostermontag ausgeschrieben (und die u.U. aufkeimende Frage, ob sich sowas gehört, gar nicht erst gestellt). Ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal (ansonsten müsste man lt. Marathon-Kalender zu diesem Termin nach Kapstadt fahren)!
3. Ostfriesland hat "außerhalb" natürlich seinen Ruf weg - mindestens über die Ostfriesen-Witze: Warum steigen die Ostfriesen im März durchs Fenster nach draußen?
Weil Feiertage vor der Tür stehen
.
Dass das wirklich ein merkwürdiges (oder besser: bemerkenswertes?) Völkchen ist, wird im Laufe der Veranstaltung öfters deutlich. Die (Ultra)Friesen sind (Lauf-)Puristen. Wahrscheinlich ist das auch der simple Grund dafür, dass sie beim Aurich-Marathon nicht in den für dortige Verhältnisse recht ausgedehnten, vogelträllernden, nach drei Tagen durch die leicht gülledurchwaberten Wiesen- und Feldfluren bereits gewisse Sehnsüchte auslösenden Vorfrühlingswald direkt neben dem Start-Ziel-Bereich an der sic! Waldschule wechseln. Wohl viel zu wenig Wind da - und auch sonst: viel zu untypisch (oder steht da einfach alles immer unter Wasser?).

Wir rennen - der Reihe nach - #1 in Neuenburg (Treffpunkt: Torfschuppen irgendwo außerhalb des Dorfes), #2 Asel (Treffpunkt zu Hause beim Veranstalter, also eine echte Adresse), #3 im Süden von Norden (ja, wirklich! Treffpunkt: irgendwo im Wald [nein, nur der Treffpunkt!] an der II. Moorriege, alles klar?) und #4 in Aurich (sehr einfach: an der Waldschule). Nachdem man die ganzen Lokalitäten gegoogelt und sich in einem Übersichtsplan markiert hat, wird das für nicht aus Ostfriesland anreisende Teilnehmer erforderliche Basislager in Aurich aufgeschlagen, das einigermaßen in der Mitte liegt und leicht über eine (schnurgerade) Bundesstraße erreichbar ist.
Wir finden eine sehr preiswerte, sehr ordentliche und sehr geräumige Ferienwohnung, die "Nordsee-Oase". Man hört hier zwar noch nicht das Rauschen der See, aber dafür findet man die Unterkunft auch ohne Navi immer sehr leicht wieder (was für uns ja wichtig ist): Direkt neben dem markanten Sendemast! Und den sieht man eigentlich von jedem Veranstaltungsort aus (ist ja flach hier). Nach Neuenburg sind es 40km, nach Asel 30km, und zum Süden von Norden (gegenüber der 4. oder 5. Score-Tankstelle, wenn man aus Aurich kommt), 25km. Also jeweils kürzer, als man dann laufen muss.

Start zu #1 am Torfschuppen bei Neuenburg (Foto:Ultrafriesen)

Alle Läufe sind gleich (bis auf kleine Unterschiede). Es sind zunächst mal alles ausgewachsene Marathons. Darauf legen die Ultrafriesen (UF) viel Wert - keine halben Sachen ! -  und so wird in Aurich zu Beginn noch eine Ehrenrunde um den Parkplatz gedreht, um auf die vollen 42.2km zu kommen. Bei den anderen 3 Strecken wird das Soll deutlich übererfüllt, die erste ist mit reichlich 43km die längste. Alle Läufe bestehen aus übersichtlich strukturierten 5.3km-Runden ohne Ecken und Kanten (bzw. bei #2 aus einer 5.3km-Wendepunktstrecke), die es 8 (bzw. 4)mal zu durchleiden gilt. Immer gegen den Uhrzeigersinn. Nie rechts abbiegen! Loopen in Reinform eben. Das Teilnehmerfeld ist jeden Tag zu 80% identisch (die meisten wollen in die Serienwertung) und umfasst auch etliche der jeden Tag wechselnden, lokalen Organisatoren. Ansonsten gibt es natürlich auch Tagesläufer (Urlaub machen wir hier ja alle, die einen mehr, die anderen noch meer). Alle Läufe beginnen um 9 Uhr (egal ob Winter- oder Sommerzeit; die Richtung der Uhrenverstellung wird schon vor dem Start des 1. Laufes in einem basisdemokratischen Prozess unter den Teilnehmern festgelegt). Am Ende jeden Tages steht ein Zahl unter 20m als summarische Höhendifferenz auf deiner Uhr. Passt! Da kann Berlin einpacken. Urkunden gibt es 20sec nach Zieleinlauf frisch vom Chef unterschrieben in die Hand gedrückt. Beim letzten Lauf sogar Medaillen. Dafür beim ersten keine Urkunden, aber selbstgemachten Eierlikör.

Worauf die Ultrafriesen nicht so viel Wert legen, ist Schnickschnack. Schnickschnack wie ein Klo z.B., ein Dach über dem Kopf zum Umziehen, ein regenfester Unterstand für die Veranstaltungs-Leitung (Sonnenschirmchen muss reichen), Startnummern, Vorab-Überweisungen von Startgeldern, etc. pp. - Nein, ich übertreibe. Ein Klo gab es zweimal (für Damen sogar 3mal), kein Dach über dem (nassen) Kopf nur einmal, und keine Startnummern nur zweimal. Bei ca. 30 Teilnehmern pro Veranstaltung (natürlich würden normal 300 starten wollen, aber das wollen die UF offenbar nicht) durchaus verschmerzbar (und weniger fehleranfällig, als 4stellige Zahlen zuzuordnen). Das mit den Klogängen in freier ostfriesischer Natur kann sich allerdings schnell schwierig (und gefährlich) gestalten: Flaches Land, weite Sicht, rechts und links vom Weg nur Wassergräben (dahinter: Moor). - Anderer Müll wird gar nicht erst gemacht (mit Namen beschriftete Porzellanbecher stehen bereit!), und insofern ist auch klar, dass die Verpflegungs-Pausen ganz ruhig im kompletten Stillstand vollzogen werden müssen und damit zu pace-killenden Stopps werden. Bei der Auswahl des Futter-Sortiments lassen sich die UF nicht lumpen - alles da, wirklich alles. Hinterher gibt es (immer) Erdinger, und (teilweise) Sekt (auf einen persönlichen 100. Marathon) oder leckere Hühnersuppe ("die essen hier normal auch die Vegetarier"). Die 10 Euro pro Lauf sind da gut und gerne angelegt. Bei der Siegerehrung nach dem 4. Lauf überrascht der UF-Vorstand sogar noch mit einem 400-Euro-Scheck, der im Rahmen der Serie "erwirtschaftet" wurde, und der an ein Hospiz in Jever übergeben wird. Alle Achtung!

Zum sportlichen Teil (über das Wetter reden wir also nicht):
Die erste Runde ist immer zum Kennenlernen. Du merkst dir den freilaufenden Hofhund. Locker lässt man den VP noch links liegen. Auf der 2. Runde wunderst du dich, dass die lange Gerade wirklich soo lang war. Der Hofhund will jetzt mit dir Stöckchen spielen. Etwas weiter zählst du die Silageblöcke, die der Bauer noch reinzufahren hat, und dann die neuen Eichenpfähle, die sie an der Koppel gegenüber schon gesetzt haben (ist heute nicht Feiertag?). Wieviel schafft er wohl pro Runde? Werden sie damit vor dir fertig sein? Spätestens nach der 3. Runde geht es das erste Mal an die Boxen. Wie schön wäre es, wenn man jetzt schon 5 hinter sich und nicht noch vor sich hätte ... Cola und Salzstangen, und Salatgurke. Nach der Hälfte sind es (jedes Mal) erschreckenderweise immer noch 4 Runden!!  Der Bauer ist fertig mit seiner Silage, und du bist es eigentlich auch - aber eben leider noch nicht wirklich. Die 5. und 6. Runde sind immer die schwierigsten, mental betrachtet. Wer hat all die Kröten plattgetrampelt? Nee, die sind schon älter. Warum gibt es hier mitten im Moor ein kolossales Motodrom? Wahrscheinlich nur, damit wir wissen, wo wir nach links vom Kanal weg abbiegen müssen. Nächstes Mal gieß ich mir gleich einen vollen Becher ein und trinke nur die Hälfte, das spart bei der übernächsten Runde Zeit! - Du merkst, dass das Blaue auf der Straße gar keine Marathon-Linie ist, sondern die Markierungen für's Straßenboßeln. Irgendein Trecker hat Lehmbrocken auf der Strecke verteilt und du musst die Füße nochmal richtig hochheben. Hoffentlich fallen keine Tiere über das unbemannte Depot im Bushäuschen am Wendepunkt her! Läuft es sich besser auf nach links oder nach rechts hängendem Weg? Oder auf dem Trampelpfad daneben? Nach der 7. Runde kommt der (gefühlte) Endspurt, aber jetzt bloß nicht überziehen, morgen ist auch noch ein Tag! Beim Zieleinlauf brüllst Du "Zeit!" oder "fertig!", damit jemand merkt, dass du zum 8. Mal da bist und deine Zeit aufgeschrieben wird. So geht das, Tag für Tag. Ein überschaubares Leben. Eigentlich nichts als ein klassischer Halbtags-Job: 4 Stunden auf Maloche, 20 Stunden rumlümmeln. Dreimal im Regen, zweimal mit viel Wind (für einen Nicht-Ostfriesen). Immer in den selben Klamotten, immer um die 8°. Und für mich fast immer im selben Tempo (lauf-intern und -übergreifend) - was die unerwartet positive persönliche Erfahrung ist.

Das waren jedenfalls Ostertage, an die ich mich - im Gegensatz zu etlichen Vor-Ausgaben - bestimmt noch gerne das eine oder andere Mal leicht grinsend erinnern werde. Allen Beteiligten herzlichen Dank für ihren Einsatz!

Warum sind in Ostfriesland die Menschen so glücklich?
Weil ihnen die Arbeit noch Spass macht.

(wohl eher kein Witz)

P.S.
Die Ostfriesen-Witze stammen aus einem kleinen Bändchen, das (wohl an Stelle der Bibel) in der Nachttisch-Schublade in der Ferienwohnung lag.

Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Lehrmeisterin

"BC 2016 - here we go!"
- wie auch anders - werden wir pünktlich von Markus auf die Reise geschickt. Für mich in jedem Jahr auf's Neue eine Reise ins Ungewisse, auch wenn der Track inzwischen unlöschbar auf meiner Festplatte eingraviert ist.



VIII. 2015.
Ich bin die Brockenbahn.
Gleichmässig sausen die Treibstangen an meinen Rädern nach vorne und hinten, links, rechts, links. Rechts, links, rechts. Es sind die Laufstöcke, die ich mittig in den Händen halte und die so abwechselnd links und rechts nach vorne stoßen. Der Blick ist auf den unter mir hindurch ziehenden schneebedeckten Boden gerichtet. Ich muss nicht steuern, die Schienen werden mich führen, bloß nicht aufschauen, voraus in diese endlose Steigung des Entsafters kurz vor dem Jagdkopf. Rhythmus finden. Links, rechts, links. Rechts, links, rechts. Niemanden einholen wollen. Sich überholen lassen, wenn es nötig ist, aber auf Spur und im Rhythmus bleiben. Wasser auffüllen und Kohlen nachlegen, das ist alles, was erforderlich ist, um die Maschine in Gang zu halten.
Ich bin eine Lauf-Maschine.


V. 2012
Der Gipfel ist heute nicht drin. Ich will einfach nur noch überleben, nicht erfrieren in diesem sonnendurchfluteten, aber arktischen Wald. Den ganzen Tag über hatten wir heute zweistellige Minusgrade. Eiskalten Gegenwind vor Barbis, wo ich bereits alles anhatte, was für den Oberharz vorgesehen war. Noch ein knapper Kilometer bis Königskrug, dann ist heute Schluß. Mir ist schlecht, von der Brühe bei Lausebuche. Ich hatte vergessen zu fragen, ob sie vegetarisch sei [war sie nicht]. Auf der langen Geraden kurz vor dem VP kotze ich mir die Seele aus dem Leib und komme kaum diesen einen letzten Hügel hoch. Die Touristen überholen mich. Was für eine Demütigung. Die Kurve, bevor man die B4 überqueren muss. Endlich! - Auf dem Parkplatz steht ein Auto mit geöffneter Beifahrertür. Da sehe ich Michel drin sitzen. "Ich bin raus!" ruft er mir zu. Es durchzuckt mich ganz unerwartet. So sieht also ein dnf aus? - Ich merke, dass ich Abstand halte zu dem Wagen, in den ich mich jetzt so einfach auch reinfallen lassen könnte, keine Ahnung, wer oder was da gegensteuert. Es schießen mir auch keine Sprüche wie: "DNF - no option!" oder so in den Sinn. Ich gehe einfach mechanisch vorbei, weiter Richtung VP. Dort trinke ich Cola. Herwarth raunzt, ich hätte schon schlechter ausgesehen, er meint wahrscheinlich 2010. Das überrascht mich. Und genauso klar und endgültig, wie ich vor 15 Minuten noch wußte, dass es heute kein Finish geben kann, spüre ich plötzlich förmlich, dass ich da heute noch hoch komme, weil ich noch hoch kommen möchte, und dies auch verantworten kann. Später wandere ich an der Brockenbahn bei klirrender Kälte in den warm-orangen Sonnenuntergang hinein. Was für eine großartige Belohnung!
(c) André Boom


VII. 2014
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fährt mir auf dem freien Feld nach der Überquerung der kleinen Landstrasse kurz hinter Barbis der Krampf in die Waden - ja, in beide! - und ich schlage fast hin. Bis dahin war alles gut gelaufen, und ich war so früh in Barbis durchgekommen wie noch nie. Als die Krämpfe raus sind und ich wieder antraben kann merke ich, das nichts mehr geht (bzw. läuft). Dieses Kippen eines Laufes von 'alles auf go' zu 'nichts geht mehr' innerhalb von wenigen Minuten und Metern, ohne einen plausiblen Grund dafür finden zu können, das ist etwas, was ich heute in seiner bisher krassesten Ausprägung erlebe. Zurück nach Barbis? Kaum 2km wären das! - Aber zurück in einem Rennen? Niemals! Und weiter Richtung Ziel bedeutet: Mindestens bis Lausebuche. Ich weiss jedoch genau, dass wenn ich dort ankommen werde, es keinen Grund mehr geben wird, nicht auch den ganzen Weg hinter mich zu bringen. Ich grinse innerlich. "Well, let's hike!" Eine schier unendliche Geduldsprobe. 36km! Ich erfahre, wie man sich fühlt, wenn man stundenlang von Dutzenden Läufern überholt wird, von denen viele noch nie zuvor vor einem in der Ergebnisliste standen. Und man selbst kein Läufer mehr ist. Hilflos, wehrlos. Man hält das erstaunlicherweise aus. Und gehört im Ziel plötzlich wieder dazu. Trotzdem schade, es waren heute Bestzeit-Bedingungen.



II. 2009
Sanna faselt vom Aussteigen. Wir sind zusammen an der Lausebuche angekommen. Die Bedingungen waren wesentlich härter als 2008 - unserem ersten Ultra -, als der erste ernstzunehmende Schnee erst hinter Oderbrück auftauchte. Von Anbeginn an waren wir heute auf einer vereisten Piste unterwegs gewesen, unglaublich kraftzehrend. Die Tatsache, dass man am Jagdkopf erst gut die Hälfte des Entsafters hinter sich hat und von dort nochmal mehr als 9 wellige, verschneite Kilometer bis zur Lausebuche zu bewältigen sind - und nicht nur 5, wie sie fälschlich erinnerte, hatte ihre Motivation gebrochen. Aber das verstand ich in diesem Moment nicht. Und das war gut so. Ich tat es als normales Gejammer ab. Klar will jeder nach 63km bei solchen Bedingungen lieber sofort aufhören und sich hinsetzen und sitzen bleiben. Also weiter! "Ich will aber aufhören!" - "Nein, das machen wir jetzt nicht!" - Wenn man zusammen unterwegs ist, saugt man enorme Energie aus dem Wissen, dass es dem Anderen schlechter geht als einem selbst. Vornweg zu laufen und sich immer wieder umdrehen zu können, wo der Andere bleibt, kann dich in eine ziemliche Euphorie bringen. In eine gefährliche Euphorie. Auf dem letzten Kilometer drehten sich die Verhältnisse daher wohl nicht ganz zufällig um: Ich bin stehend k.o., Sanna muss warten, bis ich mühsam die letzten 100m bis zum Zielbanner bewältigt habe. Alleine hätten wir es beide an diesem Tag vielleicht nicht geschafft.


IV.2011
Eine langweilige BC? Das dachten wir alle lange Zeit, als wir nach getaner Arbeit noch im Goethe-Saal saßen. Es herrschten einfache Streckenverhältnisse und stabiles Wetter, jedenfalls bis zum späten Nachmittag. Ich komme fast eine Stunde früher oben an als bisher. Alles auf der 2. Hälfte rausgelaufen. Nur die zählt bei der BC.
Stabiles Wetter? Nun, das galt während des Laufs. Gegen 19 Uhr fängt es an zu schneien, und zwar ordentlich. Auf dem Weg runter vom Brocken stürzen einige heftig, weil der Neuschnee die Eisplatten aus dem jetzt gefrorenen Schmelzwasserabfluss des Tages überweht hatte. Die BC ist wirklich nicht auf dem Gipfel zu Ende!
Dann sitzen wir (damals noch) im altehrwürdigen Hotel König in Schierke und warten auf die Busse, die uns nach Göttingen zurückbringen sollen. Irgendwann ein Anruf: Sie kommen wegen des Schnees die Steigung vom Oderstausee nach Braunlage nicht hoch! - Die BC ist offenbar auch in Schierke noch nicht zu Ende.
In der Folge hat man ausgiebig Zeit für Charakterstudien: Es gibt Teilnehmer, die sich über die "Scheiß-Orga" aufregen und "endlich nach Hause" wollen, und es gibt Teilnehmer, die damals schon ein Smartphone haben und die Taxi-Unternehmer im Harz abklappern und alle verfügbaren VW-Busse nach Schierke beordern. Irgendwann sehr weit nach Mitternacht sind wir wieder am Tanzsaal. Niemand (!) von den Etlichen, die bei uns ein Bus-Ticket bezahlt hatten und jetzt zusätzlich das Taxi berappen mussten, wendet sich im Nachgang mit Rückforderungen an uns. Alles echte Sportler.


I. 2008
Rückblickend kann man aus der Tatsache, dass Sanna und ich damals ziemlich problemlos da hochgekommen sind, nur eines lernen: Der Kopf, der Kopf, der Kopf entscheidet - und dann kommt lange nichts!
In der ersten Januar-Woche (2008!) hörte ich das Wort "Brocken-Challenge" das erste Mal in meinem Leben. Irgendein Irrer (der Name ist mir heute bekannt) hatte einen Info-Zettel in die Kantine von Elkershausen gehängt. 80km? Ich kann aus heutiger Sicht wirklich nicht darlegen, wie verrückt und abwegig ich dies damals fand. Man kann sich nicht zurückversetzen in Zeiten, wo Marathon ein Lebensziel war und UTMB, Hexenstieg oder TorTour de Ruhr entweder noch nicht erfunden oder mir einfach unbekannt waren. Aber sie wollte da mitmachen und ich erklärte sie für verrückt. Ich werde nicht vergessen, wie wir eines Sonntagmorgens im Bett frühstückten und sie Markus Ohlef anrief, um überhaupt die ersten Infos zum Lauf einzuholen. Eine Homepage i.e.S. gab es noch nicht. Es wurde ein langes Telefonat. Am Ende stand ihr Entschluss fest und der Rest des Sonntags verlief weniger harmonisch.
Gut, da ich als Supporter sowieso in die Nummer verwickelt worden wäre, konnte ich auch gleich selbst mitlaufen. Mit einem einzigen zuvor gelaufenen Marathon in den Beinen und gestählt durch 150 Trainings-Kilometer in den drei(!) Monaten(!) vor dem Start fand ich mich also am Kehr ein und beantwortete Interview-Fragen der Form: "Wie wird man eigentlich Ultra-Läufer?"
Fakt ist, dass ich in einer Zeit dort hoch kam, die ich fast minutengenau noch in drei weiteren BCs erreichte, wenn auch die jeweiligen Gesamt-Verläufe teilweise krass unterschiedlich waren. Ich hatte mir einen einzigen Satz in das Hirn gehämmert:
"Du bewegst Dich heute mindestens 12 Stunden, und dann wirst Du oben sein."
Dadurch wurden pace, zurückgelegte und noch ausstehende Kilometer unbedeutend.
Nach 10:22h war ich auf dem Gipfel, 25min nach Sanna.


VI. 2013
Beginnen wir einfach mit dem Zeitpunkt der Rückkehr nach Hause nach dem briefing. Das ist immer der Moment, wo ich denke:
a. negative Variante: "Mann, ich möchte einmal im Leben ausgeruht am Start der BC stehen!" (Um ehrlich zu sein: 2008, wo ich noch nicht wusste, was der ASFM ist, war das auch der Fall.)
b. positive Variante: "So, und jetzt mal richtig auspennen und dann morgen schön ins Café setzen, Zeitung lesen und bloß nicht mehr an die BC denken."
Es gibt kaum einen Moment im Jahr, an dem ich "leerer" bin, ausgelaugt von den ganzen Vorbereitungsdetails der letzten Tage und den dazwischen noch reingequetschten letzten "Pflicht-Trainings". Aber diese Leere bringt mich dann schnell wieder zu der Einsicht, dass dies genau der richtige Zustand sei, morgen "joggen" zu gehen und nicht mehr denken und grübeln zu müssen, sondern nur noch zu laufen, zu laufen, zu laufen.
Und dann wieder der Alte Tanzsaal. Plötzlich ist die BC da und alles andere existiert nicht mehr.
Es lohnt sich, für dieses Gefühl viele Wochen im Jahr die BC in den Lebens-Mittelpunkt zu rücken.
Und es lohnt sich, die Gefühle der Ohnmacht und der Wut, die sich heute im Entsafter II aufzubauen versuchen, weil die Schneeverhältnisse wieder einmal katastrophal sind und man lange Abschnitte kaum gehen geschweige denn laufen kann, in Schach zu halten. Nein, keine Wut! Dies ist dein Schicksal als Challenger - und du wirst morgen geniessen, es wieder durchlitten zu haben.


III. 2010
Die Forstwirte hatten schon vor Wochen vor den Schneemassen kapituliert und das Freischieben der Strecken im Entsafter eingestellt. Die Berichte und Bilder, die uns von den Markierungsteams zwei Tage vor dem Start erreichten, waren beunruhigend. War die Chose dieses Jahr wirklich noch zu verantworten? Fakt war, dass die endgültige Route zum Zeitpunkt des Starts nicht völlig feststand. Das wusste GsD nur die Orga selbst. Der Bus-Shuttle am oberen Ende des Oder-Stausees wurde sozusagen in letzter Minute etabliert. Markus hat starke Nerven.
Wenn Du nach über 12 Stunden und 6 zusätzlichen Kilometern mit etlichen Sonder-Höhenmetern im Tiefschnee am Gipfel ankommst und denkst: "Nichts geht mehr!" - dann hilft dir manchmal die "Realität" zu erkennen, dass dem nicht so ist: Auch die Fahrzeuge der Johanniter müssen dieses Jahr vor den Schneemassen kapitulieren und kommen trotz Schneeketten nicht zum Gipfel hoch. Das bedeutet: Zusätzliche (ungeplante) Wanderung nach Schierke. Bisher waren wir immer mit dem Johanniter-Shuttle nach unten gefahren worden. Es sind weniger die weiteren Kilometer als die Tatsache, dass dies eine unerwartete Situation ist, mit der du dich plötzlich auseinandersetzen musst. Und du musst mit ihr klar kommen, denn es gibt keine Alternative. Man schafft erheblich mehr als man denkt oder für möglich hält, selbst wenn die Messlatte schon ziemlich weit oben liegt.


IX. 2016
Meine Güte: Neun in Folge! Damit nimmt die BC inzwischen eine Ausnahmestellung in meiner neunjährigen Laufkarriere ein, nur 2 lokale Zehner bin ich noch ein Mal mehr gerannt.
Die BC ist eine Haßliebe geworden - nein, das war sie von Anfang an. Der Lauf liegt mir nicht. Ein Treppenwitz. Auf Schnee bin ich letzte Kanone. Und auch der Weg bis Barbis führt - vor allem, wenn alles Grau in Grau ist - über eine Strecke, auf die man sich - bis auf Ausnahmen - freiwillig wohl kaum begeben würde. Aber genau das macht ihn zu einem Teil der Challenge, das habe ich inzwischen begriffen. Und daher wird die Route auch nicht verändert. Die zweite Hälfte führt meist moderat bergauf, im Prinzip kein Problem, aber eben nicht auf Schnee. Offenbar laufe ich darauf/darin ziemlich unökonomisch. Jedenfalls kann ich bei der BC Konkurrenz von Läufern bekommen, die ich im Sommer regelmäßig klar hinter mir lasse.
Warum trotzdem immer wieder diesen Lauf?
Die Antwort steht eigentlich schon weiter oben: Weil es keine Ausgabe gab, wo man nicht wenigstens eine neue Erkenntnis mitnahm. Weil keine BC wie die andere ist, auch wenn Du schon viermal fast auf die Minute gleich lang gebraucht hast und genau so oft bei wolkenlosem Himmel unterwegs warst. Weil sich das Wir-Gefühl unter den Teilnehmern immer weiter verfestigt und Du deshalb nie wirklich allein unterwegs bist. Weil es umwerfend ist, wenn du siehst, dass etliche Läufer, die wegen Krankheit oder Verletzung nicht starten können, trotzdem vor Ort sind. Dass Leute von den VP-Teams teilweise mehrere Hundert Kilometer anreisen, um in der Kälte stehen und dabei sein zu können. Weil es nach jeder BC mindestens einen Satz in irgendeinem Laufbericht oder einer mail zu lesen gibt, der dir unzweifelhaft klar macht, dass es sich lohnt, am Ball und Teil des Ganzen zu bleiben und diese schrecklichen winterlichen Stirnlampenläufe im Vorfeld durchzuziehen. Und weil Du Dich nur nach einem BC-Finish und nach der Spendenübergabe mit ein paar Tagen Vorfrühling am Mittelmeer belohnen darfst.
Meine neunte BC war einfach. Schon an der Rhumequelle fühlte ich, dass das gesundheitsbedingt eingeschränkte Training im Januar nicht spurlos an meiner Fitness vorbeigegangen war. Aber ich hatte meine Hausaufgaben gemacht: Alles, worauf es jetzt noch ankam war, das zu dieser Wahrnehmung passende Zitat hervorzukramen und scharf zu schalten: "Kämpfe nicht mit dem Weg - nimm, was er dir gibt!" Das tat ich. "Bis zu dem Baum in der Sonne noch!" - "Ab dem Holzstapel da hinten wieder!" - Am Ende reichte die Motivation und Stimmung sogar noch zum ersten Gipfelstein-Foto nach einem ziemlich entspannten Finish in einer - bis auf einen leichten Sonnenbrand - guten physischen Verfassung.


Lieber Körper, mach' doch noch einmal mit - bei Nr. X!


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