Wie das Blut in unseren Adern strömen wir keineswegs kontinuierlich durch diese Stadt. Eine ungreifbare Macht scheint die 300 Läufer in Grüppchen von 20 bis 30 Leuten durch die Straßen von Mitte und Kreuzberg zu pumpen. Sind es 5 beats per 10 min, die der Pulsschlag der Ampel-Taktung vorgibt? - Jedenfalls sind die Ampelintervalle in Berlin länger als gewohnt. Sozusagen ein echter Ruhepuls, hier auf den ersten paar Kilometern. Das passt also prinzipiell zum Vorhaben, aber schrill ist es schon, wenn sich alle paar hundert Meter eine Horde vermeintlich Erwachsener vor einer morgendlich verwaisten Metropolenkreuzung aufstaut, sich gegenseitig argwöhnisch bis ratlos beäugend. Hier traut sich (noch) keiner, der erste Lemming zu sein. Ein DSQ will keiner riskieren, und wer weiß - vielleicht meinen die Veranstalter es ja wirklich ernst damit, dass das Überqueren roter Ampeln ein no go [sic!] sei ...
Mir bleibt nur die Besinnung auf den Umstand, dass es völlig egal sein muss, was hier auf den ersten 5 von insgesamt 100 Meilen passiert. Und es wäre wohl auch noch egal, befänden wir uns bereits bei Meile 20 oder 30. Aber dort wird der Ampel-Spuk schon lange vorbei sein, bzw. der Mut der Kandidaten inzwischen gewachsen, nach einem absichernden Rundumblick (irgendwelche gelben Westen in Sicht?) den gesunden Menschenverstand zu seinem Recht zu verhelfen. Am Ende wird aber bei keinem einzigen Läufer ein DSQ in der Ergebnisliste stehen.
100 Meilen, 161km - für mich gleich 60km mehr als jemals zuvor am Stück. Es sollte ein besonderer Lauf sein, bei dem ich mich dieser selbst auferlegten Aufgabe stellen wollte. Und ein laufbarer Lauf, bei dem ich meinen Rhythmus finden kann. Ohne den würde es kaum gelingen können. Damit fällt die Entscheidung für den Mauerweg-Lauf quasi zwangsläufig. Eine große, geschlossene Runde auf der ehemaligen Grenzlinie um West-Berlin. Nur dort, wo diese Linie durch Wasser verläuft, werden wir abweichen. Auf keinen Fall ist der Mauerweg ein reiner Asphalt-Lauf. Nicht gänzlich flach, aber alles andere als hügelig. Obwohl, man sammelt über den Tag immerhin auch knapp 1000 Höhenmeter, wobei höchster und tiefster Punkt nur ca. 35m bzgl. der Höhe auseinanderliegen. Wir werden unsere Füße fast ausschließlich auf einen wenige Meter breiten Streifen setzen, auf den man 28 Jahre lang gerade keinen Fuß setzen konnte, ohne unmittelbar Gefahr zu laufen, erschossen zu werden. Bizarr. Wie kann es zu solchem menschengemachten Irrsinn kommen, und wodurch wird er wieder beendet? Auf den Tag genau 55 Jahre nach dem Beginn des Mauerbaus werde ich solchen Fragen ausreichend lange nachgehen bzw. -laufen können (aber wohl kaum Antworten erhalten).
Am Brandenburger Tor haben die Veranstalter eine symbolische Mauer aus Holzquadern errichtet. Die vorbeikommenden Läufer tragen sie Stein für Stein ab, reißen sie also ein. Ein zentraler Gedanke des Mauerweg-Laufes: Erinnerung an die Errichtung und das Bestehen der Mauer, und an die Menschenopfer, die sie (indirekt) kostete. Aber auch Feiern ihres Niedergangs und den "Sieg der Freiheit". Nach dem Lauf bekommen die Teilnehmer diese tollen Erinnerungsstücke, neben einem echten Mauerstein-Splitter, mit nach Hause.
Ich laufe bei km72 durch Griebnitzsee. Mir fällt das Straßenschild einer Nebenstraße auf: "via tilia", in exakt dieser Schreibweise. Ungewöhnlich. Ich schaue hinein in diese Straße: Nach 30m versperrt ein mannshohes massives Metalltor den weiteren Zugang zu den Häusern, ganz im Stil z.B. von mittleren Wohnquartieren in Nizza, wo ich gerade war, und wo man sich durch mindestens 5 Tore/Türen schließen muss, um in seine Wohnung zu gelangen. Warum wird so etwas nötig? Häuser? Eher Villen, Anwesen, mit rückseitig angrenzendem Seeufer. 2 Porsche Minimum im Carport. Auf Marmor geparkt. Was passiert hier? Von den Auswüchsen einer Diktatur befreites Terrain wird der vermeintlichen Freiheit sogleich wieder entrissen, und nicht mehr öffentlicher Bereich mitten in einer Siedlung geschaffen? Ganz anders motivierte Zäune und Mauern wieder hochgezogen, an denen zugegebenermaßen wohl nicht geschossen werden wird? Auch diese Zäune werden keinen Bestand haben, so viel steht für mich fest. Bis dahin wünsche ich den Menschen, die sich und ihren übermässigen Reichtum dort einigeln müssen, gutes Wohlbefinden und ruhigen, nur selten durch Fehlalarme gestörten Schlaf. Und dass die Torschließautomatik nie den schönen Porsche zerquetscht. Die nächsten Plattenbauten stehen fast in Sichtweite. Die via tilia verläuft auf dem ehemaligen Todesstreifen.
Eine Beobachtung zieht sich als Muster über den gesamten Verlauf der Strecke: Der ehemals freie Streifen erscheint (im besiedelten Bereich) als Großbaustelle, wobei die neuen Gebäude oft wie Fremdkörper in der Umgebung rechts und links davon wirken. Aber die Grenze verlief auch durch Felder und Wälder, und hier darf sich abschnittsweise (noch) die Natur zurückerobern, was ihr temporär entrissen war. Wahre Idyllen wenige Kilometer vom Hauptstadtbrausen entfernt.
161km - das bin ich vorher ein paar Mal mit dem Rennrad gefahren, also vor -zig Jahren. Hat jedes Mal gereicht! Fast 4 Marathons am Stück. Oder 5 sogenannte "lange Läufe". Was wird es bedeuten, ca. 20 Stunden lang ununterbrochen dasselbe zu tun? Man kann nicht 20 Stunden schlafen, man kann auch nicht 20 Stunden arbeiten (ich jedenfalls nicht), wieso sollte man 20 Stunden laufen können?
Wie teile ich mir diese Distanz ein? Gängige Strategien sind: Von VP zu VP "leben". 27 VPs!! - Bei meinem ersten Halbmarathon (auch das war einmal eine "neue" Distanz, und ist keine 10 Jahre her) bin ich von Kilometerschild zu Kilometerschild gelaufen, habe sie sozusagen "eingesammelt". Das hatte gut funktioniert, entwickelte sich sogar recht kurzweilig. Soll ich hier jetzt "VPs sammeln", ein paar mehr als Kilometer beim Halbmarathon? Und in Abständen, die fünf bis sieben Mal länger sind? - Eine andere Praxis ist es, sich unterwegs darüber zu freuen, schon ein Achtel, ein Viertel, die Hälfte, zwei Drittel, drei Viertel der Gesamtstrecke geschafft zu haben. Was ist ein Achtel von 161km? Und was bedeutet das einerseits für den bewältigten Anteil vom Ganzen (wohl nicht besonders viel!) und andererseits für das Körpergefühl (für mich sind 20km immer noch eine überdurchschnittliche Trainingsdistanz, nach der man ruhig merken darf, dass man gelaufen ist). Wird man sich über das Erreichen der Hälfte freuen dürfen, wohl wissend, dass man damit zwar sinnbildlich von Göttingen auf den Brocken gekommen ist, aber jetzt leider in Abweichung vom sonstigen Verfahren auch noch wieder zurücklaufen muss? - Oh je!!
Ich erinnere mich an meine erste BC, 2008, meinen ersten Ultra. 80km nach bis dato einem (!) gelaufenen Marathon. Da kannte ich all die erwähnten Möglichkeiten, sich die unüberschaubare Strecke in handhabbare Häppchen zu zergliedern, noch nicht. Rein intuitiv legte ich mir damals folgendes Konzept zurecht: "Du wirst 10 bis 12 Stunden unterwegs sein. Bevor nicht mindestens diese Zeit verstrichen ist, wirst du nicht am Ziel sein. Du musst einfach 10 bis 12 Stunden in Bewegung bleiben. Wann du unterwegs wo sein wirst, ist völlig egal, du musst einfach einen kompletten Tag laufen (und gehen)." Das funktionierte dann ausgezeichnet (ich kam nach 10:24h an) und trotz einer lächerlich geringen Zahl von Trainings-Kilometern konnte ich diesen Lauf einfacher finishen als viele andere danach. Diese Methode schien mir daher recht geeignet, jetzt wieder bei dem 100Meilen-Versuch zur Anwendung zu kommen. Natürlich in leichter Abwandlung. "Bevor nicht mindestens 20 Stunden verstrichen sind, wirst Du nicht am Ziel sein. Du wirst den kühlen Morgen genießen, den wärmer werdenden Vormittag, während des heißen Nachmittags hoffentlich genug Schatten finden, dich im beginnenden warmen Licht des Abends auf die bevorstehende Kühle der einbrechenden Nacht freuen können. Du wirst mehrere Stunden im Dunklen laufen. Du wirst vielleicht warten müssen, bis es wieder dämmert. Du wirst ganz sicher ankommen, es wird nur lange dauern. Bleib einfach immer in Bewegung!"
Das kann hier kein Laufbericht werden. Soll es auch nicht. Aber dass dieser Lauf gelang, sogar besser gelang als je ernsthaft für möglich gehalten, lag neben einer wohl einigermaßen sachgerechten Vorbereitung (allerdings wurde keinerlei Trainingsplan verfolgt) vor allem auch am Erscheinen hilfreicher Geister zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Zunächst schon lange vor dem Rennen. Andere 100Meilen-Novizen, mit denen man die eigene Unsicherheit teilen konnte. Dann 100Meilen-Profis, auf die man etliche Male im Verlauf des Jahres bei anderen Veranstaltungen traf und die einem über den Leistungsabgleich und die Saison-Planung ungefragt Sicherheit vermittelten, nicht gänzlich auf dem falschen Dampfer zu sein. Gute Wünsche im Vorfeld von vielen nah- und nicht so nah Stehenden. Leute an der Strecke. "Was machst Du denn hier?" - "Ich will sehen, wie es Dir geht!" - Falk, Martin, Silvio und Sabrina - Danke! - für wie immer gelungene Fotos und die kältesten Weizen des Mauerwegs! Und das Ziel-Bier. Danke an alle, die mir vom Lauf vorgeschwärmt haben (am eindringlichsten tat das Frank während der 24h in Rüningen 2014 [während derer ich längst keine 100mi zusammen bekam, der nächtliche Schlaf war mir wichtiger]). Auch ich empfehle ihn weiter. Und sage und denke nicht mal direkt nach dem Ziel-Einlauf: "Nie wieder!" Bin viel zu neugierig auf die andere Laufrichtung. Den hügeligen Reinickendorfer Wald gleich zu Beginn. Mit wenig Ampeln. Überfüllte nächtliche Bürgersteige gegen Ende in Kreuzberg. Kreuzungen, an denen man froh sein wird, dass es eine Ampel gibt. Hoffentlich wird die nächste "rot" sein, damit man endlich wieder stehen bleiben darf.
[Hier sollte eigentlich Schluß sein. Dann sind mir doch noch paar Sachen eingefallen]
Der Beginn des Mauerweg-Laufes im Uhrzeigersinn, also zunächst über Mitte mit Reichstag und Brandenburger Tor nach Kreuzberg mit Checkpoint Charlie, und dann entlang der East Side Gallery nach Treptow, ist mehr noch als der Berlin-Marathon zunächst ein wahrhaftiges Berlin-Sightseeing. Und man hat am frühen Morgen selbst diese Stadt noch fast vollständig für sich. Lediglich ein paar gejetlaggte Asiaten streunen schon herum.
Spätestens auf der 6km-Geraden entlang des Teltow-Kanals (km23-29) merkt man, ob es läuft. Es läuft! Die kumulative Pace sinkt kontinuierlich. Ich weiß, dass ich zu schnell bin. Der neben mir laufende Thomas auch. Aber was soll ich machen? Ich atme ja kaum! Spätestens ab km35 bin ich ziemlich im flow. Da steht Michael (guitar, vocals bei der Baltic Run-Abschlussfeier) am VP in Buckow und strahlt und ich strahle zurück, da kommt mir Falk entgegen, der will später noch den 2. Teil einer 2er-Staffel laufen und wartet auf "seinen" Startläufer. Ich überhole ununterbrochen. Ich höre mich laut sagen: "Dies wird dein geilster Lauf!" Km40, km50. Alle splits incl. VP-Zeiten (ich bin hoch konzentriert!) um die 5:30/km. I am just a running thing.
Dann der erste Dropbag-Punkt, VP10 bei km59 am Sportplatz Teltow. Und plötzlich ist der Bruch da: es geht nichts mehr, jedenfalls nicht mehr leicht, von einem Kilometer auf den anderen. Oft erlebt. Nie erklärbar. Oder ist der Körper während der 5 Tage des Baltic Runs doch zu sehr auf die ca. 60km/Tag geeicht worden? Will jetzt seinen gewohnten Feierabend haben? - Es muss mir egal sein. Es geht weiter, deutlich langsamer und schwerer als zuvor. Es wird wärmer, in der Sonne sogar heiß. Liegt es daran? Mit Sicherheit auch. Ruhig bleiben, sich mit den neuen Wahrheiten arrangieren. VP12 Griebnitzsee 72km, wieder mit Falk, der mir bestätigt, dass ich vorhin doch munterer ausgesehen habe. Danke, war nicht nötig! Aber besser als "du siehst gut aus!", wenn man weiss, dass es gelogen ist.
VP Griebnitzsee, Foto: Falk |
In Glienicke fährt auf einmal Martin auf dem Rennrad neben mir her. Seine Frau hat heute Geburtstagsnachfeier. Und hat ihn sozusagen an die Strecke geschickt, weil alles andere ja eh Blödsinn wäre. Ich nutze dieses Glück, einen ungeplanten Supporter zu haben, hemmungslos aus und schicke ihn los, ein kaltes (und nur darauf kommt es an! - ich bin ja trotz der engen VP-Abstände mit einer Handflasche unterwegs) Weizen o.ä. an die Strecke zu schaffen. Wir haben jetzt ca. 28° im Schatten. Kein Problem, vorne steht ein Kumpel von ihm mit gefüllten Kühltaschen im Kofferraum. Danke Euch! - Hinter der Meierei schicke ich Martin erneut rein eigennützig wieder weg - auf dem Rad rollt er zwangsläufig oft etwas vor mir und ich merke, dass ich dadurch Gefahr laufe, zu überpacen. Und das ist hier - bei Strecken-Halbzeit [juchhu - ich bin auf dem Brocken!] - absolut verboten.
Die lange Schleife um Krampnitz- und Jungfernsee. Gut 11km "Umweg", weil dies hier kein Öttilö-Wettkampf ist. Sonst wären es nur 200m durch's Wasser gewesen. - Aber da! Das ist ja Silvio, der mir entgegengelaufen kommt! Wow! - Ich liege weit vorne im Feld? - Kann doch gar nicht sein bei diesem Schneckentempo. Ja, wir sehen uns nachher bei 130km! - Ich muss mich auf den bevorstehenden 2. Dropbag-Punkt am Schloß Sacrow bei km91 konzentrieren. Dorthin habe ich die Nacht-Pflichtausrüstung (Lampe, Reflexweste) beordert. Sicherheitshalber. Jetzt ist zwar erst 15 Uhr und ich muss den Kram stundenlang umsonst mitschleppen, aber der nächste Punkt bei km128 war mir etwas zu planungs-unsicher. Ab 21Uhr muss man den Krempel am Mann haben (und tatsächlich wird es dann recht schnell dunkel und die Wälder da oben im Norden von Berlin sind stockfinster). 10 Minuten verbringe ich am Schloß. Klingt nach Pause, ist aber gefühlt das Gegenteil. Schuhe wechsle ich dann auch noch. Bisher Pure Connect, dann Pure Flow. Essen und Trinken geht ein bißchen unter. Ich bin objektiv ziemlich fertig. Und jetzt noch einmal die Rennsteig-Distanz! Nein, dieser Gedanke wird sofort wieder eliminiert. Jetzt ist es 15 Uhr. Und Du musst noch bis nach Mitternacht laufen. So sieht das aus. Wird gehen!
Was folgt, ist das große Sterben zwischen km90 und 130. Eben mal einen Marathon lang richtig leiden. Genau 5 Stunden brauche ich dafür. Immer wieder Geh-Einlagen. Das Handy (Pflicht, sonst hätte ich es nicht dabei und eingeschaltet) piept und klingelt. Daheim sitzen sie vor dem Live-Tracker, der jeden VP-Split zeigt. "Was ist los, warum bist du plötzlich so langsam?" - "Ich bin hier bei km104, und es ist heiß. Noch Fragen?" - Viel Wald, wieder edle Villen-Viertel, ein VP im Privat-Garten, dann Spandau und von Süd nach Nord durch die Abflug-Schneise von TXL. Ich hasse diesen Fluglärm im 30sec-Takt und bedaure die Menschen, die ihn hier in ihren Nicht-Villen täglich ertragen müssen. Ich kämpfe mich durch die eigentlich wunderschöne Strecke zwischen Falkenhagen und Henningsdorf. An den VPs kann ich fast nichts mehr essen. Schlecht! Es ist noch ein Marathon! Meine Zungenspitze hängt in Fetzen, wahrscheinlich zerfressen von der Cola. Über so viele Stunden mute ich ja auch sonst dieses Gift meinem Körper nicht zu. Du kannst verrostete Chrom-Stoßstangen und 10 Jahre nicht geputzte Klos damit wieder sauber kriegen! - Ich steige um auf Malzbier, das ich allerdings bei 30° Flaschentemperatur auch kaum noch runterkriege.
Endlich der 3. Dropbag-Punkt. Nur noch 34km. Dort wird mir Silvio wieder entgegen kommen. Mit einem kalten Weizen im Glas (!) in der Hand. Allein dieser Anblick - etwas Zivilisation in dieser Plastikbecher-Welt - motiviert mich. Wir wandern und laufen wieder ein Stück zusammen, bis er auf der Brücke über die A111 umdreht. "Wir sehen uns im Ziel!" - "Ja, das tun wir!" - Plötzlich laufe ich wieder, keine Gehpausen mehr. Ich laufe sogar wirklich, also nicht nur 8er pace. Ich laufe sogar die gar nicht so flachen Steigungen durch. Wow, das erlebe ich tatsächlich zum ersten Mal, ein come back während eines Laufs. Normal komm ich entweder gut durch oder das Sterben hält bis zum Schluß an. Bin ich bisher einfach immer nur zu kurz gelaufen? Nein, es ist wieder deutlich kühler geworden! Das muss es sein! Die Luft, die man atmet, hat dadurch eine ganz andere Dichte, ist mein Gefühl, kann ganz anders verwertet werden. Oh, ist das geil, nicht den Rest der Strecke wandern zu müssen, was ich lange befürchtet hatte.
Die Dunkelheit legt sich schneller und kompletter als erwartet über die Strecke. Es geht durch dichte Wälder, und ohne Lampe würde man nicht die Hand vor Augen sehen. Dazu alte, unebene Kopfstein-Pflasterung durchsetzt mit Wurzeln. Äußerst sturz-anfällig. Ich bin froh über meine Lupine, kenne die Akku-Laufzeit und gönne mir 2W-Flutlicht. Alles andere, was sie sonst noch könnte, ist Umweltzerstörung. - Die Kühle, der Mond, jagende Fledermäuse, ein OpenAir-Konzert eines deutsch-singenden Schlager-Sternchens, dessen Lieder phasenweise klar verständlich fast eine Stunde lang zu mir herübergetragen werden, die von der Stadt (wo versteckt die sich eigentlich, kaum 10km vor dem Ziel?) von unten schwach orange angeleuchteten Wolken, und dann - endlich! - Falk von hinten, nicht ganz so flott wie beim Trans Gran Canaria, aber doch wie immer beeindruckend - ich genieße tatsächlich diese Lauf-Nacht, nach über 140km. Weil sie kurz sein wird. Weil ich noch vor 1 Uhr im Ziel sein werde. Weil ich um 2 Uhr im Bett liegen werde. Weil der Plan aufgegangen ist. Weil auf den letzten paar Kilometern alles egal ist und ich nicht mehr um Minuten und Plätze kämpfe. Ich werde unter 19 Stunden bleiben, deutlich. Damit hätte ich nie gerechnet. Was wäre drin gewesen, wenn es kühler gewesen wäre? Egal. Mein Maximal-Ziel war sub20h (was bedeutet hätte, dass alles optimal läuft, was es ja gar nicht tat), mein Zufriedenheits-Ziel war sub24h (um den 100mi-buckle zu bekommen), das Minimal-Ziel war finishen, wozu ich 30 Stunden gehabt hätte. Jetzt bin ich fast da, und ich bin leer, und ich bin zufrieden mit mir.
(c) Catharina Linkenbach |
Ja, und auch die Siegerehrung ist noch mal ein richtiger Höhepunkt, und es stört mich kein bißchen, dass sie fast 3 Stunden dauert, und ich wundere mich diesbzgl. ein wenig über mich selbst. Aber die Art und Weise, wie uns hier durch mehrere Grußworte namhafter Menschen noch einmal in Erinnerung gerufen wird (als ob dies nötig wäre!), dass der Mauerweg-Lauf mehr ist als eine Lauf-Veranstaltung, ist sehr berührend. Und die Moderation von Hajo und vor allem Alex, die alle ca. 250 Finisher namentlich auf die Bühne bitten, nachdem sie zuvor schon die Staffeln "abgefertigt" haben, ist vor dem Hintergrund, dass die beiden keine Minute geschlafen haben, eine Meisterleistung. Am Ende steht Hajo kurz in dieser typischen Haltung da, die Erschöpfung und Zufriedenheit gleichzeitig ausdrückt - sich nach vorne übergebeugend mit beiden Händen über den Knien auf die Beine abstützend - so wie ich vorhin im Ziel stand. Auch er ist jetzt am Ziel.
(c) Claudia Tetzlaff |
Ich danke allen Beteiligten sehr herzlich für die Verwirklichung dieser großartigen Veranstaltung, die als ein (100)Meilenstein in meine Lebenslaufgeschichte eingehen wird.
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