Dienstag, 20. Juni 2017

24 hours at a time - Burginsel-Lauf 2017



Nee, das ist nicht im Central Park und da hinten versteckt sich auch nicht das Empire State Building. Ich habe mich dort hingewagt, wo die lebensgefährlichen Krankenpfleger wüten und die Stadtwerke in großen Mietblocks einfach Strom, Gas und Wasser abstellen, wenn nicht gezahlt wird - also schlimmer als die Bronx! - und auch ab und zu Hotels in zentralen Lagen abgerissen werden (wodurch dann eine Brachfläche entsteht, die jetzt wohl Hotelwiese genannt wird und keiner, der die story nicht kennt, kann das im geringsten verstehen), und wo man als Wahrzeichen eben nichts anderes hat als diesen objektiv hässlichen Wasserturm (als Göttinger darf ich so etwas sagen, denn in Göttingen haben wir noch nicht mal einen hässlichen Wasserturm als Wahrzeichen). Ansonsten sind Göttingen und Delmenhorst sehr ähnlich: Hier wie dort sind die dazumal stadt-prägenden Kasernen inzwischen abgewickelt und hier wie dort wird gerade das Waschbeton-Pflaster der Fußgängerzone durch Naturstein ersetzt. Nur 24h-Läufe gibt es in Göttingen noch nicht.
Game: Delmenhorst!


Ich habe in Delmenhorst in den siebziger Jahren meine Jugend-Sportkarriere hingelegt - und um der Frage zuvor zu kommen: Ja, natürlich zwangsweise (also auf den Ort bezogen)! - und wie viele von Euch (zwangsweise bereits) wissen, kulminierte das ja in meinem einzigen Landesmeister-Titel (die Disziplin dürfen diejenigen, die es noch nicht wissen, gerne raten!) und einer Ehren-Urkunde der Stadt.

Irgendwie kam ich mir daher dieser ehemaligen Heimat gegenüber (u.a. auch: erste Liebe, Abi) seitdem immer etwas treulos vor - die 5 äußerst intensiven Leichtathletik-Jahre im Delmenhorster TV (was war ich damals immer eifersüchtig auf Vereine, die das "LG" im Namen hatten!) prägten mein Leben vielleicht mehr als man es für möglich hält, auf jeden Fall kommen sie mir rückblickend auch heute noch wesentlich gefüllter vor als die inzwischen verstrichenen 10 Laufjahre, die ja mittlerweile auch so manche Denkwürdigkeit und mehrere Urkunden-Ordner umspannen.

Dass es den 24-Stunden-Lauf von Delmenhorst gibt, hatte ich schon längere Zeit wahrgenommen, aber erst dieses Jahr passte der Termin und das Vorhaben ziemlich perfekt in meinen weiteren Lauf-Plan für das Jahr. Warum also nicht die Gelegenheit ergreifen, dieser gefühlten Treulosigkeit gegenüber der Ex-Heimat endlich etwas entgegenzusetzen? Zumal sich alle anderen Ultras an diesem Wochenende an der Zugspitze (lächerlich: nur 1 Runde!) stapeln! - Delmenhorst - ich komme!

Wie immer hantiert man mit völlig falschen Erinnerungen, wenn es um die Einschätzung von Distanzen an einem ehemals vertrauten Ort geht, an dem man lange nicht tatsächlich war (das kenne ich auch aus Kaiserslautern, dem "Vorgänger" von Delmenhorst, sozusagen). Und so schieße ich an einigen Kreuzungen, wo ich hätte abbiegen müssen, zunächst über das Ziel hinaus, aber so groß ist das Zentrum ja nicht und immerhin hatte meine Mutter zuletzt in Sichtweite des Start-Banners gewohnt und auch der (für mich) neue Kreisel vor ihrer Haustür bei der Feuerwache kann mich am Ende nicht mehr irritieren: Ich parke auf den Graftwiesen nahe unserer alten Vereinshalle vor dem Kiosk neben dem Stadtbad (das jetzt natürlich "Graft-Therme" heißt), der die letzten 40 Jahre ziemlich unverändert überstanden hat und habe damit wirklich 20m neben der Laufstrecke meine Versorgungsbasis für alle Fälle (im Astra, klar).

Die Runde ist offiziell mit 1.205m vermessen und gleicht von der Form her eher einer in der Mitte zusammengequetschten Banane als einem Kreis oder Ei. Sie verläuft durch einen Teil der Graft, eine Art Stadtpark mit ringförmigen Teichen um die Burginsel in der Mitte. Bis heute glaube ich nicht, dass da jemals wirklich eine Burg stand (die stehen doch immer auf Hügeln?). Aber immerhin kann dann später von dieser grünen Wiese, die sich Burginsel nennt und damit sogar Namensgeber der Veranstaltung ist, gegen 23 Uhr ein bombastisches Feuerwerk gezündet werden (arme Vögel!), das einen doch ab und zu aus dem Lauf- in den Gehschritt zwingt, damit man sich das alles auch in Ruhe anschauen kann. Denn so komplett glatt&eben, das man nicht stolpern könnte, ist das Geläuf (kein Asphalt, nur [staubige] Parkwege oder Verbundpflaster [ich hasse Verbundpflaster]) dann doch keineswegs überall.

Eins steht fest: Wenn das hier sportlich einigermaßen im erwarteten Rahmen abläuft, werde ich in diesen 24 Stunden von Samstag bis Sonntag Mittag dieses Stück am Wasser der Äußeren Graft entlang häufiger gelaufen sein als während der ganzen 8 Jahre Delmenhorst zuvor, denn vor den "Langstrecken" draußen zur Wintertrainingszeit habe ich mich nicht selten gedrückt. Überhaupt war damals alles über 1000m (1km) ein Ultra (der Weitsprung-Anlauf hatte halt nur 31m) und alle 10km-Läufer für mich Verrückte.

Delmenhorst, Du siehst: Für Dich nehme ich Einiges auf mich!

Kommen wir endlich zum Wesentlichen:
Was können neben den angerissenen persönlichen Themen die sportlichen Gründe sein, an einem 24h-Lauf teilzunehmen? Dazu fällt mir spontan Folgendes ein:
  • du hast keinen Ärger mit der Streckenmarkierung und Navigation, also Verlaufen scheidet schon mal aus
  • du kannst ausprobieren, wie lange dein (überflüssiges) GPS wirklich hält
  • du brauchst nichts, nicht mal Klopapier, bei dir zu tragen, brauchst dir über Ernährung und Klamotten keine Gedanken zu machen, du kannst dich jede Runde vollfuttern und/oder umziehen oder auf den Pott setzen
  • du kannst es dir einfach mal so richtig geben (wenn du möchtest)
  • du kannst üben, zu widerstehen (dem in Sichtweite der Strecke lockenden "Bett")
Jetzt, nachdem ich den 24h-Lauf von Delmenhorst im Speziellen hinter mir habe, möchte ich noch ergänzen:
  • "Es gibt nichts, was man nicht verbessern kann", sagt man. Falsch!
    Den VP dort kann man nicht verbessern (vor allem, wenn man ihm wie ich als Pflanzenesser begegnet)! - 15 Sorten frisches Obst in mundgerchten Häppchen, 15 verschiedene Säfte, natürlich auch ein Dutzend gekühlte(!) sonstige Getränke, Kuchen, Trockenfrüchte, Nüsse, Oliven, Salziges (in all diesen Kategorien natürlich auch jeweils etliche Ausführungen) sind auf einer 360-Grad-Theke um eine im Normalleben als Bierstand genutzte Bude aufgebaut und werden unermüdlich 24 Stunden lang gehegt und gepflegt.
    100 Punkte! Überraschende Erkenntnis hinterher: Ich habe die ganze Nummer letztlich mit Kiwis, Ananas, Wassermelone, Salzbrezeln, Erdinger, Malzbier und Cola durchgezogen.
wie gesagt, das Buffet geht einmal ganz rum ...
  • du kannst Runde für Runde beobachten, wie lange die Schnecke quer über die Strecke braucht und ob sie es am Ende heil schafft. Du kannst Wetten mit dir abschließen, ob sie schneller sein wird als die Pfütze gegenüber austrocknet. (Sie hat es leider nicht geschafft, also gar nicht).
  • du erlebst (wenn du mit dem Wetter so viel Glück hast wie wir hatten und dem letzten Punkt weiter oben nicht buchstäblich erlegen bist) das sehr langsame Weichen des Tages und das gar nicht soo viel später folgende zögerliche, aber bestimmte Aufsaugen der Dunkelheit durch den blassen Frühnebel. Dein leichtes Frösteln nimmst du gerne hin, denn eins steht fest: Es wird nicht lange andauern. Trotzdem brauchst du dich vor Hitze kaum zu fürchten, denn mindestens drei Viertel der Strecke sind voll beschattet.
  • du ergötzt dich an den bezopften jungen Damen einer nordhessischen Staffel in recht knappen knallroten Trikots, die dich pausenlos überholen (also an ihrem auffallend anmutigen, technisch sauberen Laufstil ergötzt du dich!). Auch ansonsten liefern die vielen Staffel-Teams, die (jedenfalls in den ersten 12 Stunden) in völlig anderem Tempo an dir vorbeiflitzen, eher willkommene Abwechslung als befürchtete Störung deiner Ruhe beim Kreiseln. Verleiten natürlich dennoch zum Überpacen. Aber nur anfangs. Das regelt sich bekanntermaßen alles von selbst. Irgendwann sind dann fast alle gleich schnell. Falls überhaupt noch jemand läuft.
  • es ist unglaublich kurzweilig, die Entwicklungen zu beobachten. Steht der ältere Herr, der da seit Stunden (!) jeden (!) beklatscht und anfeuert, in der nächsten Runde auch noch da? Irgendwann ist er tatsächlich weggebeamt. Und dann steht er plötzlich wieder da. Wie in einem Zeitrafferfilm. - Welcher furchtbare Schlager wird wohl bei der nächsten Runde aus den quäkenden Lautsprechern des Autos an der Hotelwiese schäppern, dessen Besitzer diese Mucke offenbar tatsächlich gut findet (so kamen wir doch noch in den Genuß von "Atemlos durch die Nacht", was in der playlist des Veranstalters wohl verboten war). Es ist 5 Uhr morgens. Vielleicht ist er ja auch nur etwas besoffen auf dem Heimweg. - Eine große Trommel-Gruppe erscheint, spielt ein paar Runden lang und verschwindet. - In der letzten Stunde stehen dann plötzlich (also frisch hingebeamt) 10 kids mit einer Krach-Röhre am Spielplatz und grölen laut mit. Bei ihner Musik-Auswahl (Marmor, Stein und Eisen bricht, et al.) besteht kein Zweifel, dass sie sich selbst nicht ernst nehmen, oder hab ich da mal wieder irgendwas nicht mitgekriegt? -
    Naja, und last, but not least: Jede Runde kannst Du auf den Monitor schielen und sehen, wohin deine sportliche Reise geht (Gesamtplatz, AK-Platz). Manchmal tut sich da auch 10 Runden mal nichts, da muss man dann halt durch.
  • die Fähnchen, mit denen du dich nach 100, 125, 150, 175km usw. eine Runde lang schmücken darfst, sind nette kleine Helferlein zur Aufrechterhaltung der Restmotivation. "Nur noch 10 Runden bis zur Fahne, noch 7, noch 5, noch 4 noch 3 noch 2 noch eine, endlich!!"
  • du kannst bis zu 24 Stunden darüber meditieren, was unter dem Strich die bessere Lösung sei, wenn du nicht mehr kannst: etliche Runden für ein paar lausig zähe zusätzliche Kilometer durchwandern und die damit verbundene spezielle Muskel-Belastung in Kauf nehmen, oder eben richtig schlafen gehen und dann taufrisch (hüstel!) zurückzukommen. Hm, noch keine Klarheit ...
  • du erkennst, dass nicht diejenigen Läufer für dich bedeutsam sind, die du regelmäßig überholst, sondern diejenigen, die du erst bei der Siegerehrung erstmals zu Gesicht bekommst und bis zum Ende recht knapp (das darf man bei 66m Abstand nach 167km doch sagen?) vor dir lagen. 
Gibt es auch Gründe, nicht an einem 24h-Lauf teilzunehmen? Klar (wenn auch nur wenige):
  • wenn du nicht willst, dass du dir nach dem Lauf die Füße waschen musst: Komm besser nicht nach Delmenhorst! Dreck ohne Ende!
  • nirgends ist es leichter, sich dem inneren Sauhund zu ergeben! Du kannst jede Runde aufhören, zwischenzeitlich oder komplett. Du kannst dich einfach auf eine der vielen bequemen Parkbänke fallen lassen, der nachts nett angestrahlten Wasserfontäne in der Außengraft beim Versuch zusehen, etwas Sauerstoff in die trübe Brühe zu fächeln, oder den Entenmüttern bei ihrer Arbeit, den Küken beizubringen, dass sie vor diesen Hunderten Läuferbeinen keine Angst zu haben brauchen und ruhig 50cm neben der Strecke weitergrasen dürfen.
  • wenn man nicht laufen müsste, könnte man einfach Zuschauer sein - ach, wie herrlich! - und wie gesagt: das wunderbare Feuerwerk ganz in Ruhe genießen und Pommes essen und Bier trinken und zur Musik der ziemlich guten Live-Kapellen ein bißchen tanzen. Wie verlockend!
  • du kommst nicht wirklich voran. Aber das ist schlicht eine Schein-Wahrnehmung. Hinterher bist du doch woanders, garantiert!

So, ziemlich viel Text wieder, zum Abschluß noch ein paar harte Zahlen & Fakten zwecks Wahrung der eigenen Erinnerung, denn beim nächsten 24h-Lauf (dies war ja nach Rüningen 2014 [zu viel Helene Fischer, zu wenig Feuerwerk] erst mein 2.!) will ich wenigstens nur neue Fehler machen:

Meine 24h-Burginsel-2017-Episoden:
  1. 12:00 - 18:03
    61.1km, p5:59, Pure Flow4/RU4,
    310XT
    VP alle 4 Runden, viele Runden sekundenscharf in 7:00min
    raus als 8. ges / 1. AK
  2. 18:03 - 18:36
    Dusche in der Turnhalle, komplett umziehen, Nudeln fassen
  3. 18:36 - 20:02
    rein als 14. ges / 4. AK

    13.2km, p6:29, Hoka ATR2/RU4 aus Episode 1,
    310XT
    Dusche war Schwachsinn, hat aber nicht geschadet.
    Das mit den Nudeln geht gar nicht, war zu viel und zu hektisch.
    VP alle 1 - 2 Runden, Rundenzeit interessiert nicht mehr
    raus als 10. ges / 2. AK
  4. 20:02 -21:15
    Wieder komplett umgezogen.
    Versuch, vorzuschlafen, um die Nacht durchlaufen zu können.
    Scheitert. Paar sms geschrieben, dann wieder weiter
  5. 21:15 - 00:03
    rein als 18. ges / 6. AK
    25.8km, p6:33, PureConnect4/RU5,
    310XT
    raus als 8. ges / 2. AK
    bis jetzt 100.2km in 10:20h ohne Episode 2 und 4
  6. 00:03 - 03:55
    mit 100km in den Gräten ungeduscht, aber nochmal umgezogen ins "Bett"
    fühlt sich jetzt ganz gut an.
    Kein Wecker (das Universum entscheiden lassen).
    Bin dann wohl vor Hunger aufgewacht.
  7. 03:55 - 12:00
    also erstmal ein paar von diesen leckeren cantuccini!
    rein als 28. ges / 6. AK
    67.4km, p6:58, PureFlow5/RU5 (beste Kombination), SQ 100
    07:00 Frühstück, 2mal halbes Brötchen mit Butter to go, i.O.
    VP jede Runde (fast)
    am Ende 6. ges / 3. AK
  8. Zusammenfassung
    18.20h auf der Strecke, 167.6km, davon >98% gelaufen, p6:33 incl. VP-Stop-overs

    5:40h Pause (ohne Fortbewegung auf der Strecke)
    Garmin 310XT nach 12h Aufzeichnung noch 30% Akku
    Arival SQ100 nach 8h Aufzeichnung noch 63% Akku
    Episode 2 oder 4 hätte ich mir sparen sollen.
    Dann wäre ich wahrscheinlich nicht 66m hinter dem 5. sondern 28m hinter dem 4. angekommen.
  9. Fazit
    a. allgemein:
    geniale Veranstaltung (nicht nur für diese nach wie vor irritierende Stadt, sondern absolut!)
    b. persönlich:
    geniale Veranstaltung (der Tractus, der im Mai noch rumgesponnen hat, ist wieder ruhig)

und hier noch der link zum namengebenden song für diesen post, kennt vielleicht nicht (mehr) jede/r. Es geht um Frauen und Fortbewegung (was sonst?)