Donnerstag, 10. September 2015

Out of Comfort Zone - TransAlpine-Run 2015



Moment mal!
Wann bin ich zuletzt 8 Tage in Folge gelaufen?
Wann bin ich zuletzt 268km in 8 Tagen gelaufen?
Wann bin ich zuletzt 16.000 Höhenmeter in 8 Tagen gelaufen?

Immerhin lauten die Antworten auf diese Fragen, die ich mir nicht nur einmal in den Monaten und Wochen vor dem Start stelle, nicht gleich dreimal: "Noch nie!", sondern in 2 Fällen: "Vor 5 Jahren!" Aber ist das etwa schon ein ausreichendes Fundament, liefert das die erforderliche Sicherheit und Zuversicht, sich diesem außergewöhnlichen Vorhaben stellen zu dürfen? Wird das nicht wieder zu einem ähnlichen Fiasko werden wie der nicht beendete Deutschlandlauf 2010, auf dessen Konto allerdings die 2 bejahenden Antworten gehen? - Mit anderen Worten: Wetten auf das Finishen würde ich lieber nicht abschließen (und das verbietet sich wohl auch schlichtweg für diese Art von Unternehmung, ganz unabhängig von der persönlichen Lauf-Historie).

Was unterscheidet den TransAlpine-Run (TAR) eigentlich von Läufen, die man so im Alltagsgeschäft in Angriff nimmt? Drei Dinge:
Es ist ein Etappen-Lauf.
Es ist ein Team-Lauf.
Es ist ein Berg-Lauf.

Bei einem Etappenlauf ist das Tagesziel ungefähr so wichtig wie das Erreichen des ersten VP bei einem Marathon: Es ist erforderlich, aber unbedeutsam. Jede Etappe für sich genommen bleibt unbedeutsam, erst die lückenlose Aneinanderreihung aller erfolgreich absolvierten Teilstücke ergibt das Finish. Zwischen den Teilstücken liegen Übernachtungen an wechselnden Orten mit wechselnden Gegebenheiten. Sich mehr oder weniger schnell aufbauender Schlafmangel ist quasi untrennbar damit verbunden. Kleine Zimmer, große Zimmer, weiche Matratzen, harte Matratzen, Ruhe, Hauptstraßen, Badewanne, Klo auf halber Treppe. Der Wecker geht auf jeden Fall zu früh. Oder erlöst von der durchwachten Nacht, in der man sich nur rumwälzte. Und: Ja - du hast dich gestern bereits ausreichend bewegt und kämst unter Normalumständen kaum auf die Idee, das heute zu wiederholen. Ab dem 2. oder 3. Tag wird damit die Birne zur wichtigsten Funktionseinheit: Du musst das jetzt einfach wollen! Da wieder raus. Rein in die kaum durchgetrockneten, müffelnden Klamotten des Vortages. Das Gefühl ignorieren, das dir suggerieren will, dass du nicht einen Kilometer weit laufen kannst. Wollen, also die intakte Motivation, ist die eine Seite - aber du musst faktisch auch (noch) können! In acht Tagen kann so viel passieren (mit Faktor 2 im Team ...): Füße ramponiert (ohne realistische Chance auf Abheilung können schon Blasen zum Problem werden), Schuhe zerschlissen (geht je nach Terrain schneller, als man sich das je vorher vorstellen konnte - vgl. Gran Canaria ...), der Magen-Darm-Trakt - immer ein potentieller Herd für Ungemach (was sich für viele Teilnehmer dieses Jahr mit fortschreitender Dauer bewahrheitete), Folgen eines fast bei jedem Schritt im Bereich des Möglichen liegenden Sturzes, eine aufkommende Erkältung, usw. Wenn man sich das so vor Augen führt, wundert einen die Ausfall-Quote von 33% in der Team-Wertung eigentlich überhaupt nicht mehr. Eher, dass es doch bei vielen funktioniert hat.

Der TAR als Team-Lauf ist etwas recht Spezielles. Du sollst diese für sich allein schon recht anspruchsvolle Aufgabe auch noch mit einem Partner absolvieren, der sich jederzeit maximal in 100m Abstand um dich herum aufhält (Regel-Vorgabe). Über 268km und 8 Tage und 16.000 Höhenmeter! - Wer soll das sein, wie soll das gehen, wenn Du kein eineiiger Zwilling bist? Hast Du schon mal versucht, mit jemandem Schulter an Schulter einen Marathon zu laufen (nur einen)? Ist normalerweise eher schwierig! - Du übernimmst eine zumindest gefühlte Verantwortung oder Zuständigkeit nicht nur wie sonst für Dich allein, sondern unmittelbar auch für deinen Team-Partner: Sein finanzieller und organisatorischer Einsatz (Startgeld, Vorbereitung, Urlaub) werden durch dich in Wert gesetzt oder eben vernichtet (auch wenn man nach dem Ausscheiden des Partners in der Sonderwertungsklasse der 'Individualisten' weitergeführt wird: Wer will das schon sein? Das "echte" Finishen ist eben im Team vorgesehen, Punkt.). Du wirst deinen Partner auf jeden Fall kennen lernen, auch jenseits des Laufens. Es wird eine Gratwanderung oder gar ein Drahtseilakt zwischen Himmel und Hölle, zwischen gemeinsamen Erleben, Leiden und Erfolg gegenüber erforderlicher Toleranz und Kompromissfähigkeit. Die auf den ersten Blick im Vordergrund stehende physische Komponente bekommt so auf jeden Fall einen psycho-sozialen Sparrings-Partner an die Seite gestellt, den es nicht zu unterschätzen gilt und der bald an den spärlichen, verbliebenen Ressourcen mitknabbern wird. Das zu erleben - nein: zu durchleben, reizte mich fast am meisten.

Ein Berg-Lauf ist kein Lauf. Es ist schlicht eine andere Sportkategorie. "Trail Running". Kilometer werden nebensächlich, pace erst recht. Was zählt, sind zunächst die Anzahl, Verteilung und Art der Höhenmeter. Also: Haben wir heute 2.000 oder 3.000 bergauf? Haben wir 2.000 am Stück oder zweimal 1.000? Sind es Forstwege, single trails oder wegloses Felsterrain? - Wie hoch kommen wir absolut? Was bedeutet das für die Ausrüstung? Welche Schuhe sind angemessen? Brauche ich Stöcke? Wie lange werde ich für die albernen 13km zwischen 2 VPs brauchen, wenn sie durch +/- 1.000 Höhenmeter getrennt sind? Und welche Verpflegung muss ich daher dabei haben? Nicht zuletzt: Ist es naß oder trocken? Haben wir stabile Wetterverhältnisse oder müssen wir mit Gewittern rechnen?

In gewissen Abständen übertrumpft bekanntlich die Neugier auf die Beantwortung solcher nun schon mal im Raum stehender Fragen jegliche rationale Überlegungen und Erkenntnisse ("Ich bin ja kein Bergläufer!") oder allzu bequeme Zögerlichkeit ("Das lass ich mal besser."). Man kommt zu einem Entschluss:

Quäl Dich, Du Sau! Denn nur so wirst du es erfahren!

© sportograf
Der Weg
Der Entschluss zur Teilnahme und die Team-Findung war letztlich ein längerer Prozess und keineswegs mit heißer Nadel gestrickt. Ziemlich genau 1 Jahr vor dem Start fiel für mich die Entscheidung. Ich war - anfänglich zumeist ungeplant - zu viele Kilometer an Jan's Seite getrabt, als dass ernsthafte Zweifel bestehen konnten, dass zumindest die sportliche Seite funktionieren müsste. Und da er auch mal für ein paar Stunden die Klappe halten kann, durfte man das Ganze wohl wagen. Als "Nice Nasty Nerds" stehen wir noch vor dem Jahreswechsel 2015 auf der Starterliste.

Man schleppt dieses Event natürlich irgendwie die ganze Saison mit sich herum. Was das Training angeht, was die ausgewählten Wettkämpfe angeht. Wo liegt die richtige Dosierung? Zu wenig wird nicht reichen, zu viel schadet aber genauso. Die offiziellen TAR-Trainingsempfehlungen schaue ich mir für 3min an und weiss dann, dass sie keine Richtschnur für mich sein werden. Ich wohne ja auch nicht in den Bergen. Und ich bin kein Masochist. Ich muss nach meinem Gefühl gehen (was bisher nie ganz falsch war) - und ein bisschen mein Geburtsjahr im Blick behalten. Regeneration wird von Jahr zu Jahr wichtiger, das spüre ich, auch wenn die absolute Leistungsfähigkeit bisher kaum nachgelassen hat.

Jan's Treter nach 3 Tagen
Beim TransGranCanaria Anfang März lerne ich, was auch unter "Laufen" verstanden werden kann. Ich lerne, dass Schuhe, mit denen man problemlos die Alpen wandernd überquert hat, beim Rennen in technischem Gelände innerhalb eines Tages geschrottet werden können. Ich lerne, dass man keine Sekunde die Konzentration verlieren darf, will man nicht auf einem der einfachsten Abschnitte ziemlich böse stürzen. Ich lerne, dass ein Sturz bei noch ausstehender Marathon-Distanz nicht das Ende des Rennens bedeuten muss. Ende Mai im Lamer Winkel und im Frühsommer beim ZUT lerne ich, dass ich bergab eine ziemliche Niete bin und das einfach akzeptieren muss. Ich lerne, dass man stundenlang im Regen oder Schneeregen unterwegs sein kann und was man da anhaben muss. Ich lerne, dass dann das Wichtigste ist, dass die Brille nicht beschlägt (um nicht zu stürzen) und wie man das (meistens) erreichen kann. Im privaten Trainingslager einen Monat vor dem Start in den Berchtesgadener Alpen lerne ich, wie man unterwegs sein und was man futtern muss, um ca. 2.000 Höhenmeter an mehreren Folgetagen zu verkraften. Ich komme immerhin auf 150 Wochen-Kilometer, bei jeweils 9.600 auf- und absteigenden Höhenmetern. Alles in allem fühle ich mich schließlich für einen Flachlandtiroler recht ordentlich vorbereitet. Ich ahne, worum es gehen wird. Es kann und muss endlich losgehen.

Und tatsächlich rast plötzlich die Zeit und man kann auf einmal die Tage bis zum Start zählen. Nur noch ein ruhiger Gruppenlauf am bzw. um den Edersee, mit 2 UTMB-Aspiranten - rums. lande ich wieder auf dem Bauch bzw. der linken Trinkflasche. Ziemliche Rippenprellung. Bekanntermaßen recht schmerzhaft und langwierig. Und natürlich auch verunsichernd. Noch 21 Tage. Ich kann nicht tief durchatmen. Suboptimal. Training ist eine Qual und nicht mehr als eine Pflichtübung. Nach 2 Wochen kann ich immerhin wieder durchschlafen. Und Einparken rückwärts mit Blick über die rechte Schulter (autsch, geht ja gar nicht!) ist keine zentrale Disziplin beim TAR.

Es geht los. Auf dem Weg nach Süden verlassen wir das Grau des Nordens und fahren voll in den Hochsommer zurück. Es gibt nichts Motivierenderes, als bei blauem Himmel in den Urlaub und in die Berge zu fahren. In den Urlaub!? Na klar. Urlaub mit ein bißchen Sport. Das reden wir uns jedenfalls hartnäckig immer wieder ein. Gemeinsam finishen ist alles! - Auf einer Raststelle sprechen uns Leute mit Salomon-Tretern an den Füßen an. "Auf dem Weg nach Oberstdorf?" - "Mmh." - Der Mann aus dem Rheinland wird uns ein paar Tage später mit gerissenen Bändern in Landeck entgegenhumpeln. Gut, dass er es in diesem Moment noch nicht weiß.

Oberstdorf - da sind wir durchgerannt 2014 beim APUT, da hab ich Sanna abgeholt am Ende ihres autarken Deutschland-Laufes 2012. Björn ist hier vor einem Monat durch, zu Beginn seiner Deutschland-Querung von Süd nach Nord. Jetzt entsteht hier noch mehr Lauf-Historie. Wir checken ziemlich früh ein, bekommen für unsere 750 Euro Startgeld schon mal einen ziemlichen Haufen Gels, Buffs und Stirnbänder, und die offizielle TAR-Transporttasche - für die nächsten 8 Tage das Maß aller Dinge. Das Starter-Shirt: "Eight days to fill with pain and glory. We'll make it." Abergläubig wie ich bin, werde ich das nie anziehen. Ich warte lieber auf das Finisher-Shirt in Sulden.

Umpacken. Sachen richten. Haben wir wirklich alles bedacht? Die Wettervorhersage für die erste (und die folgenden) Etappe bedeutet: Fast nichts am Körper, fast alles im Laufrucksack. Sonne und Wärme pur. Die Pflichtausrüstung wird nicht reduziert, also müssen wir Einiges mitschleppen. Das Briefing am Vorabend. Es gibt den Einmarsch der Flaggen der 33 teilnehmenden Nationen, Kinder-Schuhplattler, Treffen mit etlichen Bekannten, abgezählte Nudeln, nichts Frisches - und ansonsten für meinen Geschmack etwas zu viel und zu lauten TamTam. Nichts, was wir nicht schon wüssten. Später Start am 1. Tag erst um 10 Uhr, weil einmalig die Gepäcktaschen selbst angeliefert und zu den Transportlastern gebracht werden müssen. Ab dem zweiten Tag läuft eine ziemlich geniale, was uns angeht absolut fehlerfreie Maschinerie an, die die Taschen in der jeweiligen Pension abholt und zur nächsten Ziel-Pension transportiert. Bei 345 gemeldeten Teams eine nicht ganz triviale logistische Herausforderung. Respekt!


Etappe 1: Oberstdorf - Lech
trail book (Veranstalter-Angaben): 34.6km, +2.083m, -1.469m
SRTM-korrigierter Garmin-Track (aschu): 34.4km, +2.322m, -1.708m
Suunto-Track (barometrische Höhenmessung, Jan): 33.6km, +2.152m, -1.529m

2 Pässe
tiefster Punkt: Oberstdorf, 810m, nach 0km
höchster Punkt: Fiderescharte, 2.190m, nach 15.5km
Laufzeit: 6h15min
Platz 44 von 79 in der AK MasterMen (Team-Alterssumme 80 bis 100 Jahre, wir: 94 Jahre)

© sportograf

Es ist soweit: Wir stehen bei strahlendem Sonnenschein und wolkenlosem Himmel am Start. Nicht gerade werbe-wirksame Bedingungen für den Titel-Sponsor GoreTex. Immerhin haben es die Hilfskräfte dort am Stand nach stundenlangen Versuchen inzwischen geschafft, den Strom zwischen einem Schaltkasten und den Gebläsen zum Fließen zu bringen und das Zelt aufzupusten. Da muss und wird im Laufe der täglich weiterziehenden Karawane wohl noch Routine einkehren. Wir geben unsere Start-Ziel-Beutel ab - ein erstmaliger, u.U. sehr wertvoller Service durch Gore, weil du dich im Ziel sofort umziehen kannst und nicht bis zur Pension in den nassen Klamotten frösteln musst. Dann das Check-In, was wohl im Wesentlichen dazu dient, zu erfassen, wer sich tatsächlich auf den Weg macht. Die Ausrüstungskontrolle beschränkt sich mehr oder weniger auf einen tiefen Blick in die Augen. Es kommt wohl auch darauf an, wie man auf die Fragen nach bestimmten Gegenständen antwortet, damit man sie gar nicht erst rauskramen muss. Es ist mein erster Lauf, bei dem ich meine Gels und Riegel mit der Startnummer beschriften muss. Wenn ein Papier mit deiner Nummer unterwegs außerhalb der Mülltonnen gefunden wird, fliegst du angeblich raus. Bleibt nur zu hoffen, dass andere keine Zahlendreher einbauen oder dich sogar vorsätzlich aus der Wertung kicken wollen.

Eine alte Läufer-Regel lautet: Wenn du am Start nicht frierst, bist du zu warm angezogen. Wir schwitzen. Weniger anziehen geht aber nicht. Wie herrlich: Ab jetzt müssen wir nur noch laufen. Laufen, essen und schlafen. Immer wieder. Heute liegen knapp 35km bis nach Lech vor uns. Noch habe ich keine Ahnung, was das bedeuten wird. Es gibt einen höheren Paß (2.200m) und noch ein paar Wellen im Höhenprofil. Ich kalkuliere mit gut 5.5 Stunden. Wir wollen ja, besonders am Anfang, locker angehen. Wir stellen uns auch ganz brav deutlich in der hinteren Hälfte des Starterfeldes auf (würden wir normalerweise nie machen!).

Dann ein ganz besonderer Moment: Der Startschuß knallt! - Es ist tatsächlich wahr geworden: 
Wir sind beim TransAlpine-Run 2015 dabei und unterwegs!
Bei ohrenbetäubendem Kuhglockengeläut rennen wir die 3 flachen Kilometer hinaus aus Oberstdorf bis zum allerersten Anstieg hinauf zum Freibergsee und überleben diese, ohne durch herumwirbelnde Stockspitzen aufgeschlitzt zu werden. Es sollten bis auf die Inntal-Passagen zu Beginn des 4. und 7. Tags die schnellsten Kilometer des gesamten Rennens bleiben ...

Wenn Du Stauforscher bist, bist du beim TAR goldrichtig. Wenn Verkehr ist und sich die Fahrbahnen verengen, entsteht Stau. Beim TAR ist massig Verkehr (312 2er-Teams starten in Oberstdorf) und die Fahrbahn verengt sich regelmässig und meist lang anhaltend. Wenn Du etwas Abstand hältst, um durch eine gleichmässige Geschwindigkeit die Auflösung des Staus zu beschleunigen, nutzen andere ihre Chance und hopsen in die Lücke. Kurz darauf steht man wieder. Genau wie an besonderen Hindernissen wie etwa Bachquerungen oder über den Weg gefallenen Bäumen. Es ist schon krass. Warum tut man sich das an? Alleine wäre man (ohne ans Laufen auch nur denken zu müssen) oft schneller unterwegs. Eine Erfahrung, die die Schnellen ganz vorne wohl gar nicht machen konnten. Ich hatte es aber genau so erwartet und nehme es als Teil einer erfolgreichen Taktik-Umsetzung: Überpacen ist so definitiv unmöglich. Gut so! Kraft sparen. Das ganze Ding wird sowieso eine einzige große Energiespar-Übung. Mir tun nur die "normalen" Wanderer leid, die an diesen TAR-Tagen auf unserer Route unterwegs sind. Macht es wohl Spaß, sich an hunderten entgegenkommenden Leuten vorbei zu schlängeln?

Der Stimmung tut das alles keinen Abbruch. Dazu ist das Wetter einfach zu gut und die Akkus noch zu voll. Viel Gerede, obwohl es doch schon bis zum 1. VP an der Wankalm bei km11 ordentliche +600hm hinauf geht. Alles nur ein seichtes Vorspiel. Die "Wand" wartet direkt dahinter. Jetzt folgen weitere +800hm auf 4km. Nachgerechnet? Genau. 20%, im Durchschnitt. Wie ich schon sagte: Kilometer spielen sehr schnell keine Rolle mehr. In einer endlosen Schlange windet sich das Teilnehmerfeld zur recht luftigen Scharte hoch, wo wir erstmals von den legendären "Püschel-Jungs" (gehören offiziell zum Medical Team des Veranstalters 'Plan B') mit Kuhglockengeläut und eben diesen pinken Cheerleader-Püscheln empfangen werden. Oben blitzschnelles gedankliches und körperliches Umschalten auf den Downhill. Das ist alles nicht ohne hier, man kann zwar nicht wirklich abstürzen, aber sehr ekelhaft fallen auf diesem schotterigen Geläuf. Alle, die drängeln, werden gerne vorbei gelassen. Wir sind hier auf der 1. Etappe. Heute ist alles völlig egal. Heile ankommen. Was sonst. Hinter der Mindelheimer Hütte geht es weit runter in die Latschen-bewachsenen Hänge. Unglaubliche Hitzeschübe erfassen uns. Gut, nach dem diesjährigen Thüringen Ultra kann mich nicht mehr viel schocken. Aber die Getränkevorräte sind doch schon bedenklich eingedampft und der nächste VP zwar nur noch 5k entfernt - aber was bedeutet das hier in Laufzeit? Wohl mehr als eine Stunde.
im Aufstieg zum Schrofenpass
© sportograf
Recht luftig geht es noch einmal über einen technisch verbauten Steig zum im Höhenprofil eher unscheinbaren Schrofenpass hinauf. Tschüss, Deutschland, willkommen in Tirol (oder Vorarlberg? Nein, tatsächlich erstmal ein paar Kilometer Tirol!). Aus dem Tal bei Warth dröhnen die Motorräder herauf. Die armen Anwohner, was für ein Terror! - Irgendwer hatte uns am Start vor dem kurzen Stich hinauf nach Warth gewarnt, nicht zu unrecht. Es geht halt einen Skihang in der Direttissima hoch. Am VP 2 nach knapp 26k stelle ich fest, dass ich nichts dagegen hätte, wenn hier heute das Ziel wäre. Ist aber nicht. Noch 8k. Im Lech-Tal aufwärts. Kann also nicht ganz so schlimm sein. Haha, Anfängerfehler. Auch hier lauern summarisch noch mehrere 100 Höhenmeter, dazu ist es knallheiß, weil wir uns "nur noch" auf ca. 1.400m befinden. Jeder Seitenbach dient zur Befeuchtung der Kappe und des Körpers und schafft eine eng begrenzte, kühlende Oase. Mir geht es ziemlich mies. Anderen auch, aber das hilft nicht viel. Kurz vor dem Ziel hat man dann den Blick frei auf den Rüfikopf, auf den von Lech aus eine Seilbahn hochführt, die wir morgen nicht benutzen werden. Wie soll ich da jemals hochkommen?

Das Ziel gleicht einem Heerlager geschlagener Krieger. Alles liegt und lümmelt in den sehr begrenzten Schattenbereichen herum und nuckelt am alkfreien Weizen, das nach jeder Etappe zur willkommenen Zielverpflegung gehören wird. Jan besorgt sich erstmal eine Ladung Flammkuchen. Die Versorgung ist unter Normalumständen wirklich top (und es werden Tage kommen, wo auch ich sie ausgiebig wahrnehmen werde). Ich kann aktuell aber nichts zu essen sehen und dränge darauf, so schnell wie möglich ins Quartier zu kommen. Das ist hier in Lech ausnahmsweise fast 2km entfernt. Ansonsten hat Jan das Kunststück fertig gebracht, überall im Radius von ca. 500m vom Ziel-/Start-Bereich eine bezahlbare und adäquate Herberge zu finden. Die Alternative wäre das sog. "Camp" gewesen, ein Massenlager, das durch den Veranstalter organisiert wird (und auch extra kostet). Aber wir waren uns sehr schnell einig, dass wir uns das nicht antun wollten. Wie gesagt: Sollte ja auch Urlaub werden! - Der spannende Moment naht: Werden unsere Taschen tatsächlich in der Pension auf uns warten? - Tun sie! Und dazu noch etliche andere. Bald liege ich in einem Prunkstück von oliv-braunorange gekacheltem 70er-Jahre-Bad in der Wanne und spüle parallel die Laufklamotten durch. Langsam, ganz langsam kehrt das Leben in den Körper zurück und er beschwert sich bald über die in Österreich offenbar handelsübliche Drittelliter-Größe der Weizenflaschen. Was soll man mit diesen Spielzeugen bei diesem Wetter nach solch einem Tag? - Jan geht noch mal los zur Pasta-Party, mir ist das heute zu weit und ich konzentriere mich voll auf die Regeneration. Habe ja auch allerhand passende Leckereien dabei.



Etappe 2: Lech - St. Anton
trail book: 24.7km, +1.899m, -2.042m
SRTM: 25.5km, +2.014, -2.147m
Suunto: 24.7km, +1.979m, -2.073m

1 Gipfel, 3 Pässe
tiefster Punkt: St. Anton, 1.284m, nach 24.7km
höchster Punkt: Valfagehrjoch 2.543m, nach 17.4km
Laufzeit: 5h27min
Platz 47 von 68 in der AK

Ich bin sehr froh, dass heute die (mit Ausnahme des Bergsprints) streckenmäßig mit Abstand kürzeste Etappe ansteht (die allerdings höhenmetermäßig kaum weniger zu "bieten" hat als die "normalen" - was sagt uns das?). Jede Stunde mehr an Regeneration wird nachmittags wertvoll sein. Außerdem geht es deswegen auch erst um 8 Uhr los, also entsteht nicht ganz so viel Hektik beim morgendlichen Packen, das natürlich noch keineswegs routiniert abläuft. 90 Minuten vor dem Start müssen die Taschen zur Abholung bereitgestellt sein. Das ist der Moment of "no return". Du musst ihnen jetzt wohl oder übel zu Fuß hinterher, und du darfst beim Aufteilen der Sachen zwischen Laufrucksack und transportierter Tasche keinen gravierenden Fehler gemacht haben.

Danach ist dann Zeit für ein relativ entspanntes Frühstück. Als ich den TShirt-Aufdruck unseres in der Freizeit grundsätzlich in Ballonseide gekleideten, männlichen Läufer-Duos lese, bin ich hellwach. Da steht unter ihren beiden Portrait-Fotos irgendwas, dass es bei gutem Sex auch mal Zwicken darf. Sowas lenkt wenigstens kurzfristig vom ewigen Durchdeklinieren der Streckenprofile und Höhenmeter ab.

Foto: Martin W.
Der vollste Vollmond begleitet uns am wiederum wolkenlosen Himmel bei erfrischenden Temperaturen im einstelligen Bereich, die richtig gut durchatmen lassen, zum Start. Eigentlich sind wir ziemlich underdressed, aber man glüht sozusagen noch vom Vortag nach und hat natürlich die Gewißheit, dass jegliches Frösteln sehr schnell nach dem Start wieder ins Gegenteil umschlagen wird. Wir treffen auf etliche der uns bekannten Teams. Gespannte, erwartungsfrohe Gesichter dominieren. Es machen wilde Gerüchte die Runde, dass gestern bereits 50(!) Teams rausgeflogen sind (ok, heute weiß man: Real waren es 24 gestartete Teams (von 312), die gar nicht oder nicht zusammen in Lech ankamen). Tatsächlich lichtet sich das Feld während der ersten drei Tage recht markant, in unserer Kategorie z.B. von 79 auf 60 um 24%. Unter uns deutschen "Flachlandtirolern" hat es leider Gabi aus Berlin erwischt. Kein großes Wunder! Wir hatten sie im Hostel in Oberstdorf erlebt, sie konnte nicht sprechen und war nur am Rumhusten. Diagnose jetzt: Bronchitis. Damit bist du hier weiß Gott auf der falschen Veranstaltung. Wie schade! Sie nimmt es vorbildlich und stark, ist trotzdem jeden Tag bis zum Ende am Start, an der Strecke und im Ziel dabei.
(c) hat ein netter Mensch auf facebook gestellt, weiß leider nicht mehr, wo und wer

Ab heute wird das Läuferfeld täglich auf's Neue nach den erreichten Vorzeiten in drei Blöcke eingeteilt, wobei wir für den gesamten Rest der Reise immer im mittleren landen, der aus irgendwelchen Gründen auch stets der größte ist. Heute werden diese Blöcke sogar mit jeweils 10min Zeitversatz auf die Reise geschickt. Das bietet sich auf dieser Etappe auch an, denn nach einem guten Kilometer entlang der Hauptstrasse von Lech geht die Route bis auf Weiteres in einen schmalen, "unüberholbaren" single trail über. Gut +900hm erwarten uns auf den 4km bis zum Rüfikopf auf 2.350m. Und der dickste Stau der ganzen Reise. Wahrscheinlich resultiert daraus dann doch etwas das "schlechteste" Tages-Ergebnis, denn wir sitzen mitten drin fest. Unter Taktik-Aspekten war es aber wohl optimal, diesen ersten Berg ziemlich entspannt nehmen zu können, maximal gestört durch hektische und laute Versuche einiger Mittelmeer-Anrainer, hier doch überholen zu müssen.

Bis auf einen überflüssigen Rempler eines Überholenden, der Jan eine Schramme am Knie beschert, kommen wir wieder unversehrt durch die Landschaft. Es ist eine grandiose Szenerie, geprägt von weiten, baumlosen Becken mit längeren laufbaren Passagen zwischen den diversen Übergängen (Rauhekopfscharte, 2.415m, Erlijoch, 2.430m). Dann der lange steile Abstieg ins Tal zum VP2 an der Erlachalpe auf 1.900 m, der es in sich hat, denn das von den Seiten über den hohlweg-artigen Trail ragende Buschwerk unterbindet abschnittsweise komplett den Blick auf's Geläuf, das gleichwohl ziemlich verblockt ist.

Aufstieg Valfagehrjoch: Nein, aschu, du bist noch nicht oben
© sportograf
Es folgt einer der steilsten und technischsten Aufstiege der gesamten Tour. Über 2km geht es hinauf zum Valfagehrjoch auf 2.543m. Richtig gerechnet: Jetzt sind wir bei 30% Steigung, davon in der unteren Hälfte vom Veranstalter seilversicherte Abschnitte in steilem, rutschigen "Mischgelände", weiter oben eher weglos in reinem Schutt und Fels. Hier erlebt man zum ersten Mal, dass Leute einfach stehen bleiben, um nach Luft zu schnappen. Kurz hinter dem Joch, an dem man aus quasi "unberührter Natur" in eine grauenhafte, voll "entwickelte" Ski-Landschaft überwechselt, liegt an der Ulmer Hütte der VP3 und damit auch eine Zeit-Kontrollmatte. Wir staunen nicht schlecht, als wir hier nur mit einem Puffer von wenigen Minuten zur cut-off-Zeit durchkommen. Hinter uns kommen doch noch Dutzende, wenn nicht Hunderte!? Ok, die 10min Start-Verzögerung müssen wir wohl noch draufschlagen, aber trotzdem ... Später hören wir, dass die cut-offs an allen Kontrollen um 20min verlängert wurden, noch später, dass die cut-offs auf dieser Etappe komplett gestrichen wurden. Ob das wirklich stimmt, habe ich bis heute nicht recherchiert. Klar ist jedenfalls, dass die Zeitvorgaben auf dieser Etappe irgendwie unausgewogen waren, denn wir kamen später nie wieder auch nur in den Bereich der Maximalzeiten.

Was folgt, sind -1.000 brutale Höhenmeter downhill auf Forststraßen nach St. Anton. Kein Geballere auf diesen vermeintlich leichten Passagen! Das hatten wir uns zuvor immer wieder eingebläut. Die Quittung käme am nächsten Morgen in Form zerstörter Oberschenkel. Also immer schön defensiv. Trotzdem überholen wir noch ein paar Teams. Der Zieleinlauf über die Hauptstraße von St. Anton ist für mich dann ein Déjà Vu: Genau hier endete auch der Montafon-Arlberg-Marathon, den ich 2012 mit Sanna bei ähnlichem Traumwetter genoß. Zurück in die Gegenwart: Gut angekommen heute, kein Vergleich zu gestern! Ich schicke Jan los, Futter zu holen. Der guckt überrascht, aber wohl auch beruhigt. Es gibt leckere greek-style Fladen mit viel Schnittlauch. Bißchen Schafskäse? - Egal jetzt!

Unsere Pension liegt keine 400m die Haupstraße hinunter. Ziemlich urig mit Klo auf halber Treppe und Dusche mit Platzangst und Erstickungsgefahr. Wir werden organisierter. Während der eine duscht, macht der andere seine Wäsche. Alle Bügel raus aus dem Kleiderschrank und das Zimmer nett dekoriert mit den nassen Klamotten. Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine, Doping und sonstiges Hexenzeug für den nächsten Morgen werden auf den Nachttischchen aufgeschichtet. Sonnencreme und Vaseline daneben. Trinkflaschen mit Pulver vorbefüllt. Neue Gels mit Startnummer beschriftet. Abgelaufenes Roadbook raus und Unterlagen für nächste Etappe rein in den Laufrucksack, ist Pflicht. Wie heisst die nächste Pension und wo liegt sie? Handy und GPS laden. Klopapier-Vorräte auffüllen. Die Übernachtung bezahlen (hier trägt die in Österreich unvermeidliche Rechnung die laufende Nummer "96/2015", wohlgemerkt am 30. August, und es gibt mindestens 4 Zimmer!). Parallel solange Bier trinken, bis man zum ersten Mal pinkeln kann. Wettervorhersage checken (bleibt alles, wie es ist). Das ist das bald vollautomatisch ablaufende post-race Ritual. Von wegen Freizeit!

Auf dem knapp 1km weiten Weg zur kombinierten Pasta-Party / briefing machen wir erschöpft in einer Kneipe Station. Natürlich überall nur Gestalten mit diesem TAR-Ausweiskärtchen um den Hals, aber auch sonst am Gesamthabitus unschwer als Teilnehmer zu erkennen. Bunte Schuhe, etwas brauner und etwas dünner als die Normal-Bevölkerung, manchmal etwas merkwürdige Fortbewegungsart oder Schwierigkeiten beim Aufstehen. Ich esse Salat, da es sowas erfahrungsgemäß für 600+ Leute nicht geben wird. Meine Beobachtung aus 2013 während München-Venedig, dass je südlicher man kommt, die Bierpreise steigen und die Darreichungsgröße gleichzeitig abnimmt, wird auch hier, etwas weiter westlich, bestätigt. 

Es ist ein bewundernswerter organisatorischer Kraftakt, in irgendwelchen Alpendörfern überhaupt eine Lokalität zu finden und ambulant so einzurichten, dass man sehr schnell Hunderte Leute abfüttern kann. Natürlich wird das i.d.R. nicht sehr gemütlich sein. Wir sitzen in einem finsteren Saal bei ziemlicher Enge und Getöse. - Plötzlich erwische ich mich bei der Wahrnehmung, dass es hier Brücken zu den Parallel-Universen in der Welt da draußen gibt, in denen nicht freiwillig von Nord nach Süd gelaufen, sondern alternativlos von Süd nach Nord geflohen wird. Völkerwanderungen hier und dort. Mein Gott - dürfen wir das hier eigentlich? Müssen wir uns nicht schämen? Wie verrückt ist das Leben!?  - Aber die unmenschlichen Nudel-Portionen, die das sympathische (und flotte) deutsch-schweizerische Team AndreMar dann neben uns verschlingt, reißen mich aus diesen Gedanken und holen mich zurück in diese Welt, in der ich mich momentan zufälliger- und glücklicherweise - allerdings ziemlich ratlos - befinde.

Auf dem Rückweg zur Pension piept das Handy, SMS vom Texaner mit dem schwäbischen Akzent. Leider etwas zweideutig. Ich rufe an. Ja, er hat den UTMB wirklich endlich gefinisht. Das freut mich tierisch. Über 40 Stunden ohne Schlaf, 160km nonstop - dagegen ist das hier doch Kindergeburtstag!



Etappe 3: St. Anton - Landeck
trail book: 39.9km, +2.019m, -2.494m
SRTM: 43.5km, +2.220m, -2.716m
Suunto: 42.3km, +2.164m, -2.654m

2 Berge, dazwischen eine flache Passage im Haupttal
tiefster Punkt: Landeck, 805m, nach 42.0km
höchster Punkt: 2.051m, nach 6.0km
Laufzeit: 6h48min
Platz 39 von 60 in der AK

Heute, das ist eine irgendwie merkwürdige Übergangs-Etappe. Eher ein Lückenfüller auf dem Weg zur Königs-Etappe morgen. Kein richtiger Gipfel oder Pass, kein Weiterkommen in Richtung Süden. Trotzdem beunruhigende 40 Kilometer und der bislang heftigste downhill über -1.100hm am Stück zum Ende hin. Zusätzlich werden wir fast ausnahmslos im Nordhang des Haupttals zwischen St. Anton und Landeck unterwegs sein - also prinzipiell voll sonnenexponiert. Könnte extrem heiß werden ...

© sportograf
Es sind einfach zu wenige Briten unter uns, als dass aus der trichterförmigen Traube, die sich nach 3km vor dem Übergang der Forststraße in den single trail bildet, eine ordentliche line formieren könnte. Nervig! Aber insgesamt zum letzten Mal, was wir zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen können. Die Strecke heute ist in ihrer Charakteristik 100% verschieden von der gestrigen. Wir bleiben meist im Waldbereich, was das Laufen über feuchte Erdstellen und Wurzeln aber nicht wesentlich einfacher oder ungefährlicher macht. Dazu kommt, dass sich das Feld heute noch langsamer entzerrt als sonst, also ständig auf Vorder- und Hinterleute geachtet werden muss. Es macht trotz allem ziemlich viel Spaß, und - was fast das Wichtigste ist - es gibt noch wesentlich mehr Schatten als erwartet.

Nach 13km sind wir zurück auf dem Boden des Haupttals und haben die erste Bergprüfung hinter und den ersten VP vor uns. Die VPs sind auf den Etappen zwar relativ rar gesät (was die Laufzeiten dazwischen angeht), dafür aber umso besser ausgestattet. Es fehlt schlichtweg an nichts, egal, ob man Allesesser, Vegetarier oder Veganer ist. Bananen, Äpfel, Orangen, Ananas, Wassermelonen, Gurken, Tomaten, Nüsse, Rosinen, Salami- und Käsewürfel, Kuchen, Gummitiere, Schoki, Brot, Riegel, Brote mit veganem Würzaufstrich, Kürbissuppe mit Nudeleinlage, Brühe, Wasser, Iso, Cola, alkfreies Bier - ich hab bestimmt was vergessen. Wirklich gut! - Übrigens genau so gut und perfekt wie die Streckenmarkierung. Da kann man kaum noch was verbessern. Die Strecken werden jeweils erst einen Tag vor dem Lauf markiert (Schilder, Farbspray, Trassierbänder, 5km-Schilder, Warnungen vor Gefahrenstellen etc.). Um sicherzustellen, dass Witzbolde keine Schilder verdreht oder geklaut haben, rennen dann Scouts am Renntag selbst vor dem Feld die Strecke noch mal ab und korrigieren evtl. Fehler. Und haben offenbar noch Muße, den einen oder anderen Kuhfladen auf dem Weg farblich hervorzuheben. 100 Punkte!

Genug ausgeruht - es geht wieder zur Sache. Es folgt eine sehr ungewöhnliche, aber doch irgendwie auch zu den Alpen gehörende Passage, die ganz flach gut 2km den Fluß entlang führt, der tatsächlich später Sanna heißt, hier aber noch Rosanna, und mir nicht nur deshalb ganz gut gefällt. Schön kühl allemal! Und man kann mal einfach vor sich hin laufen. Dann steht nach etwas Vorgeplänkel der zweite echte Berg an und beschert uns noch mal gut +800hm in mehreren Stufungen. Hammermäßig steil geht es nach einer Bachquerung einen gewundenen Trail durch den Wald hoch. Oben machen ein paar spanische Supporter Spektakel, und meine Hoffnung ist, dass die da irgendwo stehen, wo man mit dem Rad oder dem Auto hinkommen kann, es also flacher ist und diese Steigung erstmal aufhört. Nichts da - die stehen buchstäblich mitten im Wald, an einer der wenigen Stellen, wo man überhaupt neben dem Weg stehen kann, ohne direkt abzustürzen.

Plötzlich tönt es von hinten unverwechselbar: "Brockään-Chäällääänge!!" - Das ist dann der Moment des Tages, an dem die "Transalpinen Trail-Blondinen" aus Drääsden mit ihrem Schlachtruf und diesem umwerfenden, immerwährenden Strahlen im Gesicht locker an uns vorbei ziehen, wenn sie nicht ohnehin schon viel weiter vorne unterwegs sind. Überhaupt, der Frauenanteil hier ist nicht nur überraschend hoch, sondern auch unglaublich leistungsstark. "Brocken-Challenge" als Stichwort vernehmen wir bald schon wieder. Die BC-Ausgabe 2015 sei Schuld daran, dass sich Chloe und Andriy als neuseeländisch-ukrainisches Exoten-Laufteam gefunden haben (sie nehmen uns nach 8 Tagen freche 25sec in der Gesamtwertung ab). Auch sonst gilt es unterwegs regelmäßig, freundliche Bestechungsversuche hinsichtlich der BC-Startplatzvergabe 2016 abzuwehren.

So arbeiten wir uns empor, kämpfen nicht mit dem Weg, wandern öfter, wo man auch traben könnte. In Gedanken sind wir wohl schon auf der morgigen Mega-Etappe. Viel später als erhofft erreichen wir ziemlich vertrocknet den 2. VP. Von hier aus geht es kilometerlang auf Asphalt sehr gleichmäßig, aber eben auch knüppelhart, in großen Schwüngen zurück runter ins Tal. Diesmal habe ich im Gegensatz zur 1. Etappe die kleinen "Wellen" auf den letzten fünf "flachen" Kilometern auf dem Schirm und kann Jan gleich beruhigen, als wir die erste Gegensteigung nach der Sanna-Querung zur Südseite des Tals hinaufschnaufen, dass es nicht die letzte für heute sein wird. Wir ärgern uns, dass heute die Distanzangaben offenbar nicht ganz hinhauen (die letzten 5km werden jeden Tag einzeln durch Schilder angezeigt). Alle Leute, mit denen wir später sprechen, haben am Ende deutlich über 42km auf der Uhr. Lacht man normalerweise drüber, ist hier aber irgendwie kriegsentscheidend. Zur Beruhigung der Gemüter gibt es nette (und mitdenkende) Anwohner, die einen Gartenschlauch an die Strecke legen mit einem Schild "Trinkwasser für Läufer" daneben. Das Ding wird überwiegend zum Duschen benutzt. Ja, lange nicht erwähnt, aber trotzdem noch wahr: Wir rennen nach wie vor bei absolut wolkenlosem Himmel und sind hier bei Landeck inzwischen wieder auf der Ausgangshöhe von Oberstdorf auf 800m angekommen, wahrscheinlich sogar um ein paar Meter am tiefsten Punkt der Gesamtstrecke. Entsprechend mollig ist es jetzt am frühen Nachmittag.

Über eine Fußgängerbrücke geht es irgendwann, als wir schon nicht mehr dran glauben, heute noch jemals anzukommen, über den Inn und direkt dahinter ins Ziel. Guter Zustand. Keine physischen Probleme. Die einzige Blase habe ich seit dem ersten Tag am Daumen, von den Stöcken. Seitdem trage ich Radhandschuhe. Schlecht für den nahtlosen Teint, aber gut für die Haut. Und der Garmin hat einen Sprung im Glas. Keine Ahnung, wie wann und wo das passiert ist. Ist jetzt natürlich nicht mehr wasserdicht, was bisher verschmerzbar war, aber mittelfristig wohl seinen Tod bedeuten dürfte. Martin ("hatte ich auch schon...") zerstört gleich meine Hoffnung, dass man das eventuell beim Hersteller reparieren lassen kann. Verdammte Wegwerfgesellschaft! - Wir futtern leckere Foccacia, als würden wir heute nichts mehr kriegen. So ähnlich kommt es dann auch. Die vegetarische Essensversion bei der Pasta-Party ist diesmal etwas arg bescheiden, und die kalten, fast trockenen Nudeln wollen nicht so richtig rutschen.

Wieder Gemeinschaftsklo und -dusche in einer wieder recht betagten, aber gerade deswegen keineswegs uncharmanten Pension, die ausschließlich von Läufern belegt ist. Das ganze Treppenhaus ist per Hand kunstvoll mit den unterschiedlichsten Trachten aus den ganzen bekannten und unbekannten österreichischen Alpentälern bemalt. Wäsche trocknen können wir erstmals auf langen Leinen in der Sonne im Garten. An kaltes Bier hat der Wirt, der aus Deutschland stammt und hier vor 40 Jahren hängen geblieben ist, auch gedacht, sogar in 0,5er Flaschen, wobei pro Läufer eine auf's Haus geht. Urlaub eben.



Etappe 4: Landeck - Samnaun
trail book: 45.7km, +2.861m, -1.842m
SRTM: 45.7km, +3.063m, -2.043m
Suunto: 45.3km, +2.991m, -1.978m

3 Pässe (einer höher als der andere: 2.432m, 2.587m, 2.787m)
tiefster Punkt:  Landeck, 805m, nach 0 km
höchster Punkt: Ochsenscharte, 2.787m, nach 30.9km
Laufzeit: 8h17min
Platz 36 von 59 in der AK

© sportograf
Die Königsetappe:

Tiefster Startpunkt, längste Distanz, längster Aufstieg am Stück, meiste Höhenmeter im Aufstieg gesamt, höchster Punkt der Gesamtstrecke (der normalerweise der letzten Etappe zugefallen wäre), billigste Zigaretten am Zielort.

Erst noch mal Luft holen!




Wir haben aus den drei Vortagen genau 100km in den Beinen, also die Distanz einer meiner eher besseren Laufwochen. Und wir haben 6.000 Höhenmeter hoch und runter in den Beinen, was bei mir normalerweise über einen ganzen Laufmonat zusammenkommt. Das dürfte also eventuell spannend werden, heute.

Wir starten angesichts der bevorstehenden Aufgabe wie gestern bereits um 7 Uhr. Das bedeutet demnach: Taschen um 5:30h fertig gepackt haben, Wecker also 4:45h. Beim Frühstück wundern wir uns etwas, dass der nette Wirt nur die noch nicht besetzten Tische mit Brötchen und Wurst- und Käseplatten ausstattet und uns vor leeren Tellern sitzen lässt, aber sein Diplom des Hotel-Fachgewerbes hängt ja aus und so hat bestimmt alles seine Richtigkeit. Und irgendwann bekommen wir dann doch noch was (nach einem kleinen Hinweis).

Auf geht's. Am Start treffen wir auf Martin, den man freilich angesichts seines fetten Veilchens, das uns einen gehörigen Schrecken einjagt, erst auf den zweiten Blick erkennt. Er ist vorgestern auf das obere Ende seines eigenen Stockes gestürzt und hat wohl ziemliches Glück gehabt, dass das nicht buchstäblich ins Auge ging. In diesem Zustand weitergemacht zu haben - das ist schon eine ziemlich harte Nummer! Genauso wie Dominik, der sich alle Bänder im Fußgelenk gerissen hat und hier heute trotzdem noch eincheckt. Die Strecke fordert ihren Tribut.

out of Landeck
© sportograf
Wir bekommen die inzwischen gewohnten, gleichwohl sehr geschätzten - und wie gerade dargestellt offenbar auch erforderlichen - guten Wünsche mit auf den Weg und bemühen uns, auf den ersten ziemlich flachen, trotzdem ansteigenden Kilometern den Inn entlang bis Urgen nicht allzu sehr zu überpacen. Dann geht es los: Gute +1.600 ununterbrochene Höhenmeter im Aufstieg, die uns bei km14.5 auf das Fisser Joch (2.430m) führen werden, gilt es erstmal zu überstehen. Wir bewegen uns heute übrigens auf dem einzigen Streckenabschnitt insgesamt, auf den ich zuvor überhaupt schon mal einen Fuß gesetzt habe: 2012 war Fiss in der Ferienwoche zwischen Pitztal- und Montafon-Arlberg-Marathon unsere Basisstation. Dank Kurkarte hatten wir unbegrenzte Freifahrten mit allen Seilbahnen und schwebten teilweise mehrmals täglich zum Fisser Joch hoch, um dort im atemberaubenden Panorama-Café Kuchen zu vernichten. Von solcher dolce vita kann man heute nur träumen, es ist schon ein hartes Stück Arbeit da hoch, zumal ab ca. 1.700m alles in eine offene Ski-Landschaft übergeht und die Hänge entsprechend weit einsehbar (und steil) werden, wodurch das Vorankommen gefühlt viel länger dauert. Unterwegs mussten wir in Hochgallmigg dann leider doch noch erleben, wie sich Dominik aus dem Rennen verabschiedet. Es geht nicht mehr! Aber Matze macht weiter.

kurz unterhalb des Fisser Jochs
Oben am Joch ist es trotz immer noch blauem Himmel (das Wetter soll heute im Laufe des Nachmittags markant umschlagen und wir hoffen, bis dahin wenigstens die hohe Ochsenscharte hinter uns gebracht zu haben) ziemlich kühl und windig. Vor der Nahrungsaufnahme am VP muss ich mir erstmals was überziehen. Weiter geht es moderat bergab die aussichtsreiche Flanke entlang Richtung Kölner Haus (1.965m). Wie immer müssen aber leider die Blicke fast ausschließlich zum Boden gerichtet bleiben, jeder Schritt muss voll kontrolliert sein. - Am Kölner Haus, einem großen Seilbahn-Knotenpunkt mit viel Publikumsverkehr, steht plötzlich Dagmar an der Strecke. Träum ich jetzt? Wo kommt die denn her, war sie denn bisher mitgelaufen? - Ich hab keine Zeit, das raus zu kriegen, denn schon befinden wir uns im steilen Rückaufstieg Richtung Lazidkopf und weiter hinauf zum Arrezjoch (2.587m), wo bei km26 der 2. VP wartet.

Der wartet lange, bei mir sind ganz plötzlich, wie das nicht selten einfach so passiert, die Akkus leer. Der Bauch grummelt. Vorsicht! Aufpassen, dass das System jetzt nicht komplett kippt. Gang rausnehmen geht nicht, dann würde ich stehenbleiben. Immerhin scheint es der Mehrheit ähnlich zu ergehen, ich werde trotz halber Kraft voraus nicht gerade von besonders vielen Leuten überholt. Jan ist vorne, fit wie immer. Er zieht und es zieht sich. Das Antraben, selbst auf Bergab-Intermezzos, stellt zunehmend eine kaum zu überwindende Anstrengung dar. Irgendwas stimmt auch mit meinen Schuhen nicht - ich habe heute erstmals, wegen der Streckenlänge und der Möglichkeit von Nässe, die derberen Cascadia an, zuvor immer die leichteren, aber auch weicheren Grit (beide von Brooks).

Ochsenscharte, Blick zurück zum Hexensattel
Endlich der VP am Arrezjoch, ich sage Jan offiziell Bescheid, dass ich "durch" bin und nicht mehr viel geht. Trotzdem weiter, was sonst, z.T. über nicht ungefährliche Blockfelder. Als ich mir sicher bin, dass wir die Ochsenscharte endlich vor uns sehen, muß ich oben angekommen erkennen, das Streckenprofil mal wieder doch nicht genau genug studiert zu haben: es ist nur der Hexensattel, den ich überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, und das Leiden dauert eben noch ein ziemliches Weilchen länger. Nur mit Mühe komme ich oben irgendwann an, und auch wenn dort der Wind fegt, muss ich erstmal 2 Minuten anhalten und gucken (Jan ist damit schon fertig). Zurück - auf diesen Schlauch, der uns nochmal +800 Höhenmeter servierte und der fast auf seiner gesamten Länge mit Skiliften und Schneekanonen "ausgestattet" ist (kennen die eigentlich überhaupt keine Grenzen?). Und nach vorne, wo ich immerhin beruhigt feststellen kann, dass wir nicht völlig im freien Fall hinunter Richtung Schweizer Grenze müssen. Die versprochenen Wolken sind aufgezogen, aber noch recht flach, und wir dürften wohl noch im Trockenen ankommen heute.

So ist es dann auch tatsächlich. Die Schweiz empfängt uns ohne Grenzkontrollen und mit den 8 letzten, anstrengenden, weil laufbaren Kilometern für heute. Die Trans-Blondinen ziehen vorbei (oder war das schon viel früher?), die Trail-Sistaz ziehen vorbei. Dafür lassen wir wenigstens noch 2 Schweden hinter uns. In den aneinander gereihten Ortsteilen von Samnaun (wir müssen natürlich bis in den letzten, höchstgelegenen) sind die Bauern damit beschäftigt, das Heu - teilweise per Hand - von den irrwitzig steilen Wiesen zu holen - in den Bergen immer das sicherste Anzeichen für einen bevorstehenden Wetterwechsel. Ein paar Mal dürfen wir dankenswerterweise kurz stehenbleiben, um Trecker vorbei zu lassen. Wir erreichen das Ziel, das über 1.000m höher liegt als der Startort, ich gerade noch lebend. Schon wieder geistert Dagmar da rum, langsam glaube ich dran! - Morgen Ruhetag, bis auf den Bergsprint! Unter der Seilbahn, die uns dann morgen von oben wieder runterbringen wird, sind wir schon durchgekommen. Geht verdammt weit hoch, das Ding.




Etappe 5: Samnaun - Alp Trider Sattel (Bergsprint)
trailbook: 6.30km, +731m, -60m
SRTM: 6.24km, +731m, -81m
Suunto: 6.15km, +743m, -76m

schnell mal hoch von 1.828m auf 2.499m
Laufzeit: 1h07:30min
Platz 35 von 58 in der AK

OK. Rasttag. Endlich. Bis auf geschätzt eine gute Stunde Sport am späteren Vormittag, die wir auch noch irgendwie überstehen werden. Ausschlafen. Kein Tasche-Packen. Shoppen im Shopping-Paradies. Samnaun - das ist eine zollbefreite schweizerische Einkaufs- und Tank-Exklave, die per Auto ganzjährig nur aus Österreich erreicht werden kann (vergleichbar mit dem österreichischen Kleinwalsertal, das nur über Deutschland angebunden ist). Schade, dass die 1m hohe Säule aus 100 Mini-RitterSport-Täfelchen nicht in die TAR-Tasche (90cm) passt. Hab ich noch nie irgendwo gesehen. Mittagsschlaf. Nachmittagsschlaf. Und dann früh ins Bett. Zwischendurch mal öfter was essen, allerhöchstens.

Wir sind in einer prima Ferienwohnung gelandet, und die ist - nicht nur für Schweizer Verhältnisse - auch noch richtig preiswert (die Endreinigung fiel wohl einem Programmfehler zum Opfer?)! Platz locker für vier. Großer Balkon, aber leider keine Wanne. Man kann nicht alles haben. Und was ist das für ein komisches Geräusch? Ah, es schüttet draußen! So, wie es in den Bergen halt regnet, wenn es regnet. Macht nichts. Kennen wir. Vom APUT. Vom Lahmen Winkel. Von der Zugspitze. Aus dem Karwendel. Bergauf wird das eh fast egal sein (hoffe ich). Mal nicht schwitzen. Trotzdem - irgendwie schade, wollte einfach mal richtig braun werden ...

Was für Schuhe nehme ich morgen? Wohl die Speed Cross. Die klingen wenigstens schnell. Ach richtig, ich muss ja noch die Sachen von gestern richten. Die Einlagen aus den Cascadia raus zum Trocknen. Aber mein Gott, was ist das? - Da sind ja jeweils zwei übereinander drin!? Ich Hörni! Richtig, die hatte ich da reingelegt, falls wieder das selbe passieren würde wie beim ZUT, nämlich das Aufkräuseln der Dinger bei Durchweichung, also damit ich dann Ersatz habe. Voll übersehen! Deswegen haben die gestern also nicht so ganz gepasst. Ich hab den gefühlten "hohen Stand" einfach auf die größere Sprengung im Vergleich zu den Grit geschoben. Darf ich keinem erzählen ...

Es gibt bzgl. des Bergsprints doch ein gewisses Informations-Defizit. Wann geht es los? Wie läuft die Wertung (einzeln, Summe aus beiden, nur Letzter)? Gibt es heute eine Pflichtausrüstung? Zu all dem steht nichts auf der normalen Homepage und unser WLan ist gerade tot und so müssen wir erst mal zum Startgelände, die Lage peilen. Durch den kalten Regen. Als ob es nie anders war. Irgendwo entdecke ich eine Liste in Miniaturschriftgröße mit den Startzeiten der Teams, hoffentlich ist das kein Probe-Ausdruck. Gestartet wird von hinten nach vorne, also von langsam nach schnell, mit jeweils 20sec Abstand zwischen den Teams. Mit kompletter Pflichtausrüstung. Für uns noch über eine Stunde Zeit. Also zurück in die Bude, Füße hoch. Hoffentlich bin ich nicht in der Zeile verrutscht ...

Dann wird es plötzlich ernst. Wie bei Rad-Zeitfahren oder Weltcup-Skiläufern macht es: "Piep, piep, piep" - Die meinen wirklich uns - los!
Aus total kalter Hose (bis zur letzten Minute vor dem Regen unter Zelten verkrochen) mit ziemlich übermüdeten Muskeln losrennen - ultra gefährlich. Ich bin mir dessen zwar bewusst, trotzdem überpacen wir total, weil uns das nachfolgende Team bereits nach ein paar Metern überholt. Was ein Stress! - Immerhin geht es ziemlich genau die ersten zwei von den gut sechs Kilometern sogar leicht bergab, sodass man sich doch etwas einlaufen kann.

© sportograf
Logischerweise müssen die folgenden vier Kilometer umso steiler werden - marsch, marsch - bergauf! Schlamm. Kuhscheiße. Single trail. Überholen oder überholt werden nicht wirklich leicht möglich. Die Veranstalter haben nicht umsonst zu Rücksicht und Fairness aufgerufen - und alle halten sich daran. Bald darauf das bereits bekannte Schild: "Beginn gefährliche Wegstrecke!" - In der Tat: Ein Wasserfall rauscht neben uns ins nebelige Nichts. Ein falscher Schritt hier, und du weisst, wo er endet. Ruhig bleiben, auf den Weg gucken, die beschlagene Brille abwischen. Notfalls auch das extra angebrachte Seil benutzen. Ich mag diese nassen Wiesensteilhänge mit einem fußbreiten Pfad darüber nicht. Aber es geht alles gut. Wir sind wieder dicht zusammen. Bald mündet der Steig auf einen Fahrweg ein. Das sichere Zeichen, dass wir fast oben sind und nochmal Gas geben können. Mein Gott, bin ich froh. Das wäre geschafft. Allerdings musste ich auf der zweiten Hälfte meinen rechten Oberschenkel doch klar schonen, wenn es über höhere Absätze ging. Keine Zerrung, aber mindestens eine Muskelverhärtung. Muss ich morgen extrem drauf achten.

In der Seilbahn-Gipfelstation bzw. dem angegliederten Restaurant ziehen wir uns trockene Klamotten an. Direkt danach gibt es dort Essen, die abendliche Pasta-Party fällt heute aus. Salat! Salat! Und Pilz-Lasagne. Hoffentlich überlebe ich die ... Dann rauschen wir in der ersten doppelstöckigen Seilbahngondel der Welt zurück ins Tal und dürfen die 2km bis nach Hause durch strömenden Regen wandern. Halb so schlimm, wenn man weiß, dass es am Ende warm und trocken ist.



Etappe 6: Samnaun - Scuol
trail book: 37.1km, +2.064m, -2.690m
SRTM: 37.2km, +2.173m, -2.789m
Suunto: 37.0km, +2.157m, -2.743m

4 Pässe (2.539m, 2.752m, 2.608m, 2.730m)
tiefster Punkt: Scuol, 1.200m, nach 37.1km
höchster Punkt: Fuorcia Val Gronda, 2.752m, nach 8.1km
Laufzeit: 6h05min
Platz 34 von 56 in der AK

Matze hatte uns schon vorgestern gewarnt, die heutige Etappe nicht zu unterschätzen. Auf so eine dumme Idee wären wir natürlich auch nie gekommen. Nee, Spaß beiseite - das war schon ein ganz wertvoller Tip gewesen, der mich veranlasste, das Profil nochmal etwas aufmerksamer anzuschauen. Und so brannte sich nicht nur die Anzahl und Höhe der zu bewältigenden Pässe, sondern vor allem auch die Tatsache ein, dass wir vor dem letzten Joch (der dritthöchste Punkt der Gesamtreise!) noch mal eben runter auf die heutige Ausgangshöhe mussten (mit 1.830m die höchste Starthöhe des TAR). Also wieder so ein "2mal +900m"-Tag, ähnlich wie Etappe 3, was das angeht, ansonsten aber nicht nur wettertechnisch 100% verschieden.

Petrus lässt letztlich Gnade walten. Es ist und bleibt zwar den ganzen Tag alles Grau in Grau, aber zumindest von oben genau bis zu unserem Zieleinlauf komplett trocken. Die Morgenstimmung mit den in den Rippen der Talflanken hängenden und aufsteigenden Wolkenfetzen ist äußerst reizvoll, eigentlich viel spannender als ein simpler blauer Himmel. Wir können die Szenerie (vgl. auch Bild ganz ganz oben) bei unserem gewundenen Aufstieg zum Zeblasjoch in Ruhe aus allen Blickrichtungen bestaunen, wegen des breiten Fahrwegs sogar ganz ohne Stau.

zwischen Zeblasjoch und Fuorcia Val Gronda, 2.500m
© sportograf
Oben ist (zunächst) die Schweiz und die ausgebaute Wegstrecke zu Ende, und wir queren bis zur Fuorcia Val Gronda nochmal kurz durch Tirol. Der Großteil der Etappe führt in relativ großen Höhen durch eine weite, baumlose Schuttlandschaft, in der man zügig vorwärts kommt und immer wieder neue Blickwinkel genießen kann. Gefällt mir ausgesprochen gut. Objektiv allerdings wohl eher als wenig spektakulär zu bewerten. Nein, Quatsch - das hat wirklich was!

Eine längere Zeit laufe ich hinter Chloe her, die etwa halb so groß ist wie ich und einen runden Laufstil mit einer unglaublich hohen Schrittfrequenz hat. Auf diese Weise kann ich meinen rechten Oberschenkel etwas entspannen, der mir heute das Gefühl vermittelt, dass er bei einer einzigen "falschen" Bewegung u.U. reißen könnte. Die technisch nicht sehr anspruchsvollen Pfade sind von daher heute einfach Gold wert.

die letzten Meter hinauf zur Fuorcia Val Gronda, 2.752m
© sportograf
Nachdem wir die Heidelberger Hütte rechts unten liegen gelassen und auch den Fimberpass (2.608m) bezwungen haben, fällt die Strecke etwas entschlossener ins idyllische Choglias-Tal hinab, dem wir abwechslungsreich mit einigen Flußquerungen über schwingende Holzbrücken bis zur Wegscheide bei Farola (1.852m) folgen. Dort ist nach gut 18km wieder die erste per Fahrzeug erreichbare Stelle und VP2 erwartet uns mit dem bewährten Angebot und wie immer freundlichen Helfern.
Der jetzt folgende weite, kilometerlang aus dem Wald heraus über eine Hochalm hinauf bis zur Fuorcia Champatsch (2.730m) ansteigende Talbogen ist einfach nur traumhaft. Gerade steil genug, um nicht laufen zu müssen. Aber nicht so steil, dass sich alle Gedanken nur ums Vorankommen drehen. Man kann lauschen. Man kann riechen. Man kann schauen. Diese kräftigen, makellosen Lärchen dort, wie alt mögen die sein? Wie lange wird das hier oben überhaupt schneefrei sein im Jahr? (Heute, keine 4 Wochen später, als ich dies schreibe, berichten die Wetterportale von verbreiteten Schneefällen bis auf 1.000m herunter!!) Ich habe einen riesigen Respekt vor den Menschen, die unter solchen Grenz-Bedingungen leben und arbeiten. Holz machen, Vieh hüten. Und beneide sie ein bißchen.

Jedes Tal hat ein Ende, und das ist meist steil. So auch hier. Ich muß das Tagträumen einstellen und in einen komplett anderen Modus umschalten, um es zum Pass hochzuschaffen. Letztlich ist es ein reiner Willensakt, nicht doch noch kurz unterhalb der Paßhöhe einfach stehen zu bleiben, um Luft zu holen und die Muskeln kurz auszuruhen. Nein - ich ziehe durch, Schritt für Schritt, unterstützt vom doppelten Stockeinsatz, mit der erforderlichen Geduld, zuletzt wie immer an diesen exponierten Stellen angetrieben durch die Püschel-Jungs. Ja, sie stehen wirklich auch wieder hier oben auf 2.730m im stürmischen Wind!

Es folgt der bis dato längste downhill bis zurück hinunter auf 1.200m ins Inntal bei Scuol. Also gut 1.500 Höhenmeter, immerhin leicht strukturiert durch ein paar flachere Passagen und den letzten VP an der Bergstation einer Seilbahn bei Motta Naluns. Danach allerdings auch noch krasse Direttissimas über steile, weglose Wiesen, die ich nicht bei Nässe würde laufen wollen. Erst in Sichtweite der ersten Häuser von Scuol beruhigt sich das Gefälle ein wenig, und die einschlägig bekannten Damen ziehen wie immer kurz oder nicht so kurz vor dem Ziel an uns vorbei. Hey, TransBlondinen, was ist los? Wieso so spät heute? Seid ihr etwa schlapp? Mal gerade eine Minute nehmen sie uns heute ab. Entweder waren wir fit oder sie eben mal nicht.

Scuol - das ist mit Abstand die beeindruckendste Siedlung bisher auf unserer Route. Ein sehr altes und pittoreskes Städtchen, durch dessen winklige, kopfsteingepflasterte Gassen es hinunter geht, steil an die Hänge oberhalb des Inns geklebt, der hier nicht in einer Talsohle, sondern in einer in das eigentliche Haupttal weiter eingetieften kleinen Schlucht fließt. Erinnert mich an den Grand Canyon, wo der Colorado auch erst in der "Inner Gorge" strömt. Über die Inn-Schlucht spannt sich in einem hohen Bogen eine ziemlich verwegene Fußgängerbrücke, über die wir noch laufen müssen, um direkt am anderen Ufer das Etappenziel zu erreichen. Phantastisch!


Irgendwie insgesamt ein guter Tag, trotz des vielen Grau. Mein rechtes Bein tut nicht mehr weh, dafür jetzt das linke. Mann, wir haben fast Dreiviertel im Sack, so ganz langsam darf man jetzt wirklich ans Finishen denken!

Auf dem Weg zur Pension, die sich in einem 400 Jahre alten Gebäude befindet und ein Zwischending zwischen Hotel und Ferienwohnung ist, müssen wir erst wieder zurück über die Brücke und ich wundere mich über die geringe Höhe des Geländers, die in Deutschland garantiert nicht zulässig wäre. Direkt vor dem Hostel sprudeln auf einem kleinen Platz zwei Brunnen: Einmal normales Quellwasser, direkt daneben ein "Eisensäuerling". Schmeckt auch tatsächlich wie rostiges Rohr. Hierher muß ich nochmal in Ruhe zurückkommen! Nicht zuletzt - so viel sei schon verraten - hat das auch etwas mit der morgigen Etappe zu tun.



Etappe 7: Scuol - St. Valentin
trail book: 37.8km, +1.633m, -1.376m
SRTM: 38.6km, +1.705m, -1.449m
Suunto: 39.4km, +1.694m, -1.426m

1 GPS-feindliche Schlucht, 1 Pass, 1 Gipfel
tiefster Punkt: Sur En, 1.130m, nach 6.5km
höchster Punkt: Schafberg, 2.409m, nach 28.8km
Laufzeit: 5h42min
Platz 33 von 55 in der AK

Zum ersten Mal (ohne den Bergsprint) keine 2.000 Höhenmeter im Aufstieg! Noch dazu gleich 7 richtig laufbare Kilometer zum Etappen-Auftakt. Wir müssen aufpassen, nicht von "Erholungstag" oder "Flachetappe" zu sprechen. Denn wenn man das ausspricht, hat man es auch schon gedacht, und mit einer solchen Nicht-Einstellung könnte eine negative Überraschung wahrscheinlicher werden als bei einem bevorstehenden "Brett", das man von vornherein ernst nimmt. - Dennoch: Natürlich sollte das heute unter Normalumständen machbar sein, und gleichzeitig das eine oder andere Korn für den fulminanten Abschluss morgen, wo es über den höchsten Punkt insgesamt gehen soll, gespart werden können. Ja - unter Normalumständen ... Jan krächzt und schnupft etwas rum und murmelt was von Halsschmerzen und Erkältung. Gut, ich hoffe, das wird er sich heute einfach weglaufen.

Wir schlendern durch's Städtchen hinunter zur Brücke und zum Startgelände. Es hat etwas, dass wir wirklich jeden Tag exakt dort weiterlaufen, wo wir am Vortag angekommen sind, bis auf Landeck sogar jeweils weiter in die selbe Richtung. Das Check-In wird immer familärer, man hat sich kennengelernt in unserem Stamm-Block B. Natürlich haben wir trotzdem jeden Tag die gesamte Pflichtausrüstung dabei, wir schleppen sie ja auch nicht für den Veranstalter mit. Das Wetter sieht einigermaßen vielversprechend aus, die dicken, noch tief hängenden Wolken (nachts hat es ordentlich durchgeschüttet!) haben erste Lücken, durch die der blaue Himmel und einige Gipfel zu sehen sind. Oh, was ist das? - Neuschnee da oben!

Den Inn entlang abwärts geht es zunächst sieben Kilometer nach Nordosten, bis von rechts aus Südosten das Tal der Uina einmündet, das wir komplett flußauf durchlaufen werden, bevor wir am Schlinigpass nach Italien (bzw. Südtirol) überwechseln und hoch über dem Schlinigtal uns erst bei der Plantapatsch-Hütte (schöner Name!) wieder nach Nordosten Richtung Pfaffensee, Schafberg und dem Etappenziel St. Valentin(o) am Nordende des Haidersees, direkt südlich des Reschenpasses, wenden werden.

Diese Alpen-Flußtäler sind schon etwas Anderes als unsere mitteldeutschen Auen. Auf den 60km von Scuol nach Landeck überwindet der Inn sage und schreibe 400 Höhenmeter. Auf der gleichen Distanz zwischen Göttingen und Alfeld schafft die Leine keine 10m - und fließt trotzdem! - Es ist also richtig was los im Flußbett (des Inns), wie man sich vorstellen kann. Auf der Strecke natürlich auch: Wir müssen aufpassen, uns von dem Gerenne nicht anstecken zu lassen und sehnen die Einmündung der Uina herbei, ab der alles ganz von alleine ganz schnell wieder sehr viel ruhiger werden dürfte. So kommt es auch.

Der erste VP muss wegen einer Murenbahn weiter oberhalb, die den Fahrweg etwas in Mitleidenschaft gezogen hat, von km13 auf km10 vorverlegt werden. Da haben wir heute gerade mal eine gute Stunde hinter uns und nehmen ihn daher nicht so ganz ernst, obwohl wir wissen, dass die nächste Versorgung erst hinter dem Paß in Italien bei km25 kommen wird. Recht gleichmäßig geht es erträglich steil bergauf, und bald haben wir die Hochalm Uina Dadaint erreicht, hinter der das Tal aber einfach aufzuhören scheint.

das obere Uina-Tal. Man beachte die horizontale Struktur in der linken Wand
© sportograf
Was nun folgt, ist schon ein sehr spektakulärer Abschnitt, wie ich ihn noch nicht oft erlebt habe. Oder ist er gar einzigartig? - Das bis dahin ganz "normale" Tal verengt sich zu einer am Boden nur wenige Meter breiten Klamm mit mehreren hundert Meter hohen, massiven, fast senkrechten Felswänden. Wären die Felsen aus rotem Sandstein, könnte man sich in Zion/Utah wähnen. Auf die Idee, durch eine dieser Wände, in schwindelerregender Höhe über dem reißenden Bachbett, einen Weg zu führen, der streng genommen nichts ist als ein seitlich offener Tunnel, muß man erstmal kommen. Mehrfach ist es dann kurz tatsächlich ein kompletter Tunnel, natürlich unbeleuchtet und triefend naß.

© sportograf
Habe ich schon erwähnt, dass ich nicht schwindelfrei bin? Über die jeweilige potentielle Absturzhöhe kann man sich aber nicht allzu viele Gedanken machen. Man muss sich gleichzeitig auf den letztlich dankenswerterweise nicht allzu schmalen Boden unter den Füßen, die lichte Durchgangshöhe, die überall drohenden Wasserduschen und die auf dem Weg hockenden Fotografen, die hier berechtigterweise grandiose Aufnahmen wittern, konzentrieren. Radfahrern (!) wurde zu Beginn der Passage übrigens per Warnschild empfohlen, abzusteigen und nicht mehr zu überholen. Die haben Humor hier!

© sportograf
dem Garmin wurde auch etwas schwindelig
Der Garmin piept: "Kein Satellitenempfang." Letztlich verständlich, wir sind ja auch mehr drinnen - im Berg - als draußen. Doch so abrupt, wie diese Schlucht begonnen hatte, endet sie nach einem adrenalintreibenden Kilometer auch wieder, und wir treten buchstäblich innerhalb weniger Schritte hinaus in eine weite, offene, freundliche Landschaft - kontrastreicher ist es kaum vorstellbar. Erst jetzt merke ich, wie kalt es in der Klamm war, hinter meiner Stirn hämmert ein ziemlicher Kopfschmerz. Hier draußen - ja, wir sind wieder auf der Erde, und auch der Garmin findet sich langsam wieder zurecht - scheint die Sonne und es weht ein laues Lüftchen. Zwei Welten. Italien - wir sind fast da!

Wenn auch etwas langsamer als theoretisch möglich, Jan fühlt sich nach wie vor nicht so ganz. Aber letztlich "verlieren" wir vielleicht max. 10 oder 15 Minuten auf der Etappe, jedenfalls weniger als durch mein Schwächeln auf dem Weg nach Samnaun. Wo genau die höchste Stelle des Passes ist und damit die Grenze verläuft, ist gar nicht so leicht auszumachen. Es ist ein langer, flacher Kulminationsbereich, in dem sich das Wasser oft nicht entscheiden kann, zu welcher Seite es abfließen soll, und entsprechend gibt es sumpfige Bereiche und kleine Seen. Doch dann lassen die beiden Beamten der Guardia di Finanza, die freundlich applaudierend an der Strecke ihren anstrengenden Dienst versehen, eigentlich nur die Interpretation zu, dass er bereits hinter uns liegen muss und wir ganz unbemerkt italienischen Boden betreten haben. Endlich wieder Euro!

Was folgt, ist eine wunderschöne Passage über die linke, nordöstliche Schulter des Schliniger Tals, auf die wir hinter der Sesvenna-Hütte über einen kurzen Anstieg geführt werden, und auf der wir über mehrere Kilometer die Höhe halten oder leicht fallend den Ausblick auf den vor- und unter uns liegenden Vinschgau genießen können. Viele Tageswanderer kommen uns entgegen, was die Vermutung nahe legt, dass weiter vorne irgendwo eine Seilbahn hochführen muss.

An der Plantapatsch-Hütte (der Name erinnert mich immer wieder an das 'pitsch-o-patsch' in diesem genialen MAD-Comic vor 35 Jahren, Abt. Don Martin - 'Gestern im Park') öffnet sich der Blick dann auch nach Nordosten Richtung Reschenpass. Was für eine weite Landschaft hier, obwohl wir mitten in den Alpen sind, ganz anders als noch heute morgen im beengten Inntal. Am VP können wir endlich die Flaschen und die Akkus füllen. Der für heute finale, nicht gerade sanfte Aufstieg Richtung Schafberg ist gut einsehbar, und da bleibt man gerne zwei Minuten länger vor dem verlockenden Angebot stehen und bekommt vom Publikum nochmal zu hören, wie gut man doch noch aussieht und dass man es schaffen wird.

Der Pfaffensee liefert ohne Zweifel eine malerische Kulisse und nicht umsonst liegen hier wieder die Fotographen rum - allein, mir fehlt dann doch plötzlich jegliche Energie, hier heute noch irgendetwas schön finden und bewundern zu können. Es reicht jetzt langsam wirklich mal mit diesen unterschiedlichsten Eindrücken! Ich will nach Hause! - Knapp -1.000 Höhenmeter über knapp 10km dürfen wir nach der Überschreitung des Schafbergs noch auslaufen, wie so oft mit unerwarteten, flacheren Intermezzos, auf denen es alles andere als von allein rollt. Jaja - die TrailSistazs joggen vorbei, geht ja auch (wieder) bergab ... Im Ziel sind wir nicht nur glücklich, sondern haben auch noch Glück. Jedes 5. Team bekommt heute einen wasserdichten GoreTex-Packsack, mit der eigenen Startnummer und den Initialien draufgebrutzelt. Müssen wir uns jetzt bei Ivy und Gabi bedanken?



Etappe 8: St. Valentin - Sulden
trail book: 39.2km, +1.590m, -1.202m (Originalstrecke: 42.6km, +2.381m, -1.993m)
SRTM: 39.6km, +1.765m, -1.373m
Suunto: 39.3km, +1.607m, -1.154m

kein Pass, kein Gipfel, einfach nur ins Ziel!
tiefster Punkt:  900m, nach 15.0km
höchster Punkt: eigentlich: Tabarettascharte, 2.880m, ersatzweise: 2.095m, nach 33.2km
Laufzeit: 5h38min
Platz 33 von 54 in der AK

Eine außergewöhnliche Etappe unter verschiedenen Aspekten. Zum einen die einzige, auf der wetterbedingt von der geplanten Normalroute abgewichen werden muss. Diese Information war bereits am Vorabend durchgesickert. Und ich habe keine einzige Stimme vernommen, die die fehlenden 3km, vor allem aber die fehlenden knapp +/-800 Höhenmeter der Alternativroute gegenüber der Originalstrecke vehement einforderte. Alle sind müde, und bergauf würde es ja trotzdem noch etwas gehen. Klar, der eigentlich vorgesehene höchste Punkt der Gesamtroute, die luftige Tabarettascharte mit 2.880m fiel so ins Wasser - bzw. lag eben unter ziemlich viel Neuschnee begraben, was angesichts der dort ohnehin exponierten Wegführung vom Veranstalter als nicht mehr verantwortbares Zusatzrisiko eingestuft wurde. Bestimmt zu recht, die haben Ahnung und Erfahrung, wie auch beim diesjährigen ZUT bewiesen. - Außergewöhnlich ist die Etappe aber auch (egal ob Original- oder Alternativ-Variante), weil es zu Anfang bergab und zum Ende bergauf geht (und dies gerade auf der Alternativ-Route!), und somit alles andersrum verläuft als inzwischen gewohnt. - Und last but not least ist es eine besondere Etappe, weil es eben einfach die letzte ist, und am Ende nicht nur das Etappenziel wartet, sondern die finish line des TAR überquert werden wird. Du kannst dir noch so viel Mühe geben, diesem Umstand keinen Raum zu geben: dein Körper spürt das nahende Ende (hahaha!), spürt, dass die Anspannung abfällt, dass es nur noch ein Tag, nur noch wenige Stunden sind, bis er endlich ausruhen darf, und konfrontiert dich zunehmend mit allerlei Geplänkel der Art "da tut's weh", "dort zwickt es", "ich kann nicht mehr". Ginge es noch 5 Tage weiter: Ich bin mir sicher, dann wären wir heute fit wie am dritten Tag. Aber natürlich sind wir dennoch endlos entschlossen, heute anzukommen, und sei es auf allen Vieren 3 Minuten vor dem cut off.

der erste Kilometer am Haidersee
© sportograf
Der letzte Morgen - was macht es da, dass es in Strömen schüttet? Alles verkriecht sich unter irgendwelche Vordächer und irgendwann beginnen Durchsagen, dass auch bei diesem Wetter eingecheckt werden muss und die Startblöcke in 8 Minuten geschlossen werden. Bislang steht aber kaum einer drin. Irgendwie funktioniert es dann doch noch und wir machen uns auf die ungewohnte Reise über einen glatt asphaltierten Fernradweg 16km immer gleichmäßig bergab - echtes Laufen! - letztlich bis ins Dörfchen Lichtenberg (Montechiaro), das im südwestlichsten Winkel des hier nach Osten abknickenden breiten Taltrogs des Vinschgaus auf nur 900m Höhe liegt. Wir verlieren also auf dieser subjektiv/visuell eher fast eben wirkenden Südrampe des Reschenpasses 550m an Höhe, und haben dann alle Bergauf-Höhenmeter auf der zweiten Hälfte noch vor uns! Sulden liegt mit 1.850m so hoch wie Samnaun, und auf dem Weg dorthin werden wir zwischendurch noch einmal auf über 2.100m aufsteigen müssen.

Diese vermeintlich einfache, lange Bergab-Passage hat es durchaus in sich. Man sieht relativ viel Humpelei und einige wandern sogar hier schon. Wahrscheinlich nicht ganz freiwillig. Wie gestern zu Beginn der Uina-Schlucht bin ich jedenfalls froh, als wir endlich auf den ersten Hügel, der von einer riesigen Schloß-Ruine dominiert wird, geschickt werden, wobei ich merke, dass Jan heute noch mehr mit seiner Erkältung zu kämpfen hat als gestern. Jedenfalls bin ich öfter mal vorne, was eher ungewöhnlich ist.

Die gut 5 Kilometer vom VP2 bei Agums bis zum provisorischen VP3 an der Stilfser Brücke bei km 25, wo wir die Originalroute verlassen müssen, beglücken uns - sozusagen mit dem Ziel schon vor Augen - zum Abschluß noch einmal mit einem traumhaften Trail an der Bergflanke oberhalb der Stilfserjoch-Straße entlang, der durchgängig gut laufbar ist und über dessen zarte Wellen wir in einer größeren, harmonischen Gruppe, in der es kein Gedrängel mehr gibt, geradezu hinwegfließen, hinweggetragen werden, anders kann man es nicht beschreiben. Das ist wohl der flow!? Es regnet gar nicht mehr! Wann hat es aufgehört? Für mich einer der einprägsamsten Abschnitte der ganzen Tour, tief im Tal, weit entfernt von schroffen Gipfeln.

Unmittelbar hinter der Stilfser Brücke, an der uns die vielen motorisierten Begleiter heute letztmalig vor dem Zieleinlauf zu Gesicht bekommen, geht es dann aber für eine gefühlte Ewigkeit noch einmal brutal zur Sache: Irgendwo müssen die gut +1.000 Meter am Stück ja auch herkommen, auf den letzten paar verbliebenen Kilometern. Auch wenn wir gefühlt kriechen wie die Schnecken, werden wir nur von wenigen überholt, und die haben wir dann jeweils auch noch lange vor uns im Blickfeld. Obwohl wir unter Dampf stehen, müssen wir bald die Jacken rausholen, ohne Sonne ist es doch empfindlich kühl hier oben. Durch kurze Wolkenlücken können wir erkennen, dass die Neuschneegrenze auch gar nicht weit von uns entfernt ist - wir schätzen sie auf 2.300 bis 2.400m. Ganz oben, da wo wir eigentlich rübergeturnt wären, ist vor lauter Schnee kaum noch Fels auszumachen. Nein danke, das war schon besser so! - Erst gut 5km vor dem Ziel geht die Route endlich in einen moderaten downhill über, auf dem wir uns mehrfach gegenseitig daran erinnern, dass es hier sehr matschig ist und die Wurzeln seifig sind. Jetzt nicht mehr langmachen, jetzt bitte nicht mehr!!

Die ersten Häuser von Sulden tauchen auf, das muss Sulden sein! Aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Am Waldrand werden wir um den ganzen Ort herumgeführt, zermürbend immer nochmal hoch und runter, zeitweise durch knöcheltiefen Matsch. Aber irgendwann erscheinen die Zielbanner und die Lautsprecher-Ansagen sind zu hören und es wird wahr: Keiner und nichts kann jetzt noch verhindern, dass die Nerds den TAR 2015 finishen werden, und auch die letzte morsche Brücke hält unseren entschlossenen Schritten stand.

© sportograf

Das Ziel ist in einer Mehrzweck-Halle aufgebaut, in die man die letzten Meter hineinläuft und in der natürlich der Bär los ist. Kaum baumeln die wuchtigen Medaillen um unseren Hals, stürzen auch schon alle möglichen Bekannten auf uns zu und man beglückwünscht sich gegenseitig. Es ist vorbei! Einfach plötzlich vorbei! - Man lässt sich den Chip aus der Startnummer rausschneiden (die bleibt trotzdem heile, schon wieder Profis am Werk!). Man stößt zum ersten und nicht zum letzten Male heute an, mit echtem Bier. Es dauert etwas, bis man trotz der Hallenluft zu frösteln beginnt. Also doch erst mal ab in die Pension, chic machen und vorschlafen für die Finisher-Party nachher hier am gleichen Ort.


Ok, nun mal langsam, was ist hier eigentlich gerade passiert? - Jan und Aschu beschließen vor einem Jahr (vielleicht doch etwas tollkühn und größenwahnsinnig), den TAR zusammen zu laufen, trainieren (oft dienstags zusammen), fallen auf die Klappe, stehen wieder auf, sind beide nur krank, wenn es nicht drauf ankommt, gehen beide ohne Fieber an den Start und spulen das Ding alles in allem doch ziemlich locker ab. Das heißt jetzt nicht, dass es nicht anstrengend war. Aber das Finishen stand auch nie ernsthaft auf der Kippe. Genau so sollte es sein - und so wurde es tatsächlich! Ein Wunder!? - In gewissem Rahmen schon, denn es gehört auf jeden Fall zunächst einfach eine ziemliche Portion Glück dazu, sich in dem Moment, wo man doch mal stolpert oder ausrutscht, noch abfangen zu können. Natürlich, das passierte uns beiden ein paar Mal auf diesen 268 meist welligen Kilometern, die mehrere Hunderttausend Schritte erforderten und damit fast ebenso viele Möglichkeiten dazu boten, einen Fehler zu machen. Was wir richtig gemacht haben, war das angeschlagene Tempo unterwegs und die Konzentration auf die maximale Ausnutzung der Regenerationszeiten. Waren wir jemals später als 21 Uhr im Bett?

Über alle 8 Etappen gerechnet, geht am Ende der 35. Platz in der AK und der 120. Platz gesamt (von 207 angekommenen Teams) in 45 Stunden und knapp 22 Minuten in die Annalen des TAR ein. Natürlich wären wir noch viel weiter vorne gelandet, wenn der Lauf noch ein paar Tage länger gedauert hätte und damit noch weitere Teams ausgeschieden wären. - Nein - das alles steht hier nur, damit ich nicht immer wieder in den manchmal etwas unübersichtlichen Ergebnislisten nach diesen Zahlen suchen muss. Obwohl - das mit 'ein paar Etappen mehr' hätte schon was: Dann käme man wohl auch wirklich ziemlich komplett trans=durch die Alpen, und nicht nur vom Rand ins Zentrum.

Ich gebe ja zu - dieses geplante Feiern ist nichts für mich. Ich habe mir die Eröffnungs-Party gegeben, und zur Überprüfung meiner Vorurteile zwischendurch auch mal die komplette Zeremonie in Landeck über mich ergehen lassen. War das nicht tapfer? - Trotzdem ist die heutige Finisher Party natürlich Pflicht, und ich muss mich auch kein bißchen überwinden, dafür den Hintern noch mal von der molligen Matratze zu heben. Und na klar - es lohnt sich. Wir sitzen mit vielen zusammen, die durch Dick und Dünn gegangen sind, die letzten Tage. Wir futtern. Wir saufen. Wir lachen. Und dann werden alle ca. 550 Finisher einzeln namentlich aufgerufen, um ihr Finisher-Shirt überreicht zu bekommen. Das hat schon wirklich was!

Für die eigentliche Party, die dann ab 22 Uhr steigt, bin ich etwas zu geräuschempfindlich, zu müde, und inzwischen offenbar ein paar Jahre zu alt. Sie hatten wohl ihren Spaß. Dafür finden wir am nächsten Morgen beim Frühstück vor der Busrückfahrt nach Oberstdorf untrügliche Spuren - in einigen eher blassen Gesichtern und im Sanitärbereich. Es soll bis 3 Uhr gegangen sein. Zu viel Rest-Energie - das hat man wohl davon, wenn der höchste Paß am letzten Tag gestrichen wird.



Und nun?
Jetzt stehen wir im Regen im Stau auf dem Fernpaß. Und zwar ordentlich. Nicht die schlechteste Gelegenheit, zu versuchen, sich ein Bild dieser turbulenten Tage zu machen, aber zweifelsohne noch etwas zu früh für ein Fazit. Vielleicht eher erstmal eine Bestandsaufnahme: Mir tut nichts weh, ich hab keine einzige Schramme. Über meine Oberschenkel verläuft eine messerscharf eingebrannte, imposante Bräunungsgrenze, der auch die letzten, etwas sonnenärmeren Tage nichts anhaben konnten. Ich bin heilfroh und erleichtert, dass es geklappt hat. Stolz eher weniger, kommt vielleicht noch. Dass ich es prinzipiell könnte, wusste ich vorher, aber wie erwähnt kann so viel dazwischen kommen - man muss sich einfach überraschen lassen. - Ich freue mich schon auf meinen ersten, richtigen Lauf, ganz im Laufschritt eben, ohne Laufrucksack, ohne Stöcke, ohne Blöcke auf dem Weg, in leichten Racern. In den Bergen werde ich erstmal nur noch wandern gehen, ich hatte einfach viel zu wenig Zeit zum Gucken. Nächstes Jahr wird es wohl eher kein solches Mega-Event für mich geben, dass die ganze Jahres-Planung dominiert. Will was Neues ausprobieren. 100 Meilen? Wenn, dann in Berlin. Oh, ist das etwa kein die Planung dominierendes Projekt? Auf jeden Fall flach und Asphalt. Höchstens noch den ZUT (smiley).

Ich bin also keiner der zahlreichen Vertreter, die es gar nicht erwarten können, sich für den TAR 2016 anzumelden, und das hat eben rein gar nichts mit der Veranstaltung als solcher zu tun, an der es nicht viel zu verbessern gibt. Wenn ich den TAR aber doch nochmal laufen sollte, dann auf jeden Fall in einem Mixed-Team, da sind (jedenfalls bei den Älteren) die Ausfallquoten am höchsten und somit die Platzierungen für die Durchkommenden am besten (und vielleicht nicht so schockierend anders als gewohnt). 'Ne Kandidatin dafür gibt es ja, mit der bin ich auch schon ein paar Marathons Schulter an Schulter gelaufen, auch meinen ersten. Sie müsste sich natürlich vorher noch ein Paar Schuhe kaufen. Mal sehen ...



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