Montag, 14. Juli 2014

Auch wer im Kreis läuft, kann weiterkommen*



* diesen schönen Titel habe ich hier gefunden

2. Anstaltsmarathon der JVA Rosdorf 12. Juli 2014
Lange Zeit (sofern diese Wortwahl in Bezug auf die Dauer meiner vergleichsweise doch noch recht überschaubaren Marathon-Karriere, die sich momentan im 8. Jahr bewegt, überhaupt angemessen bzw. zulässig ist) war ein Mehr-Runden-Kurs beim Marathon für mich ein striktes Tabu. Und das logischerweise nicht aus bereits gemachten Negativ-Erfahrungen, sondern eben einfach aus Prinzip. Und so was ist ja immer schlecht.

Erstmals gebrochen habe ich das Tabu beim Zeiler Waldmarathon 2010, der das zweimalige Durchlaufen einer Halbmarathonschleife vorsieht. Ich habe es ohne Komplikationen überlebt, und erinnere mich noch dunkel daran, dass ich auch schon damals einen gewissen Reiz darin empfand, den Verlauf, die Eindrücke und Gefühle dieser zwei Varianten des vermeintlich Selben zu vergleichen und zu versuchen, die faktischen und gefühlten Unterschiede irgendwie zu erklären.

Gesteigert wurde dieser Wagemut dann beim Sondershausener Untertage-Marathon, der 2011 über 8 Runden führte. Ich stellte fest, dass jede einzelne Runde „ihr“ eigenes Thema und damit neben den Kilometern, die sie lieferte, auch ihre eigene Bedeutung hatte. … 1. Kennenlernen der Strecke (es gab ja z.B. mangels GPS-Einsetzbarkeit vorab kein Höhenprofil) 2. Überprüfen, ob man sich alles einigermaßen korrekt gemerkt hatte 3. Irrtümer korrigieren usw. 

Die nächste substanzielle Weiterentwicklung liegt dann in der Absolvierung eines Marathons mit einer Rundenlänge von ca. 1km, so dass ca. 40 Runden erforderlich werden. Wie geht denn so was? Gar nicht so schwer, und interessanter als vermutet! Vor allem dann, wenn das Setting „natürlich“ ist, die kurze Rundenlänge sich quasi notwendigerweise von allein ergibt – wie in einem Gefängnis, wo bereits der Umfang der Außenmauern die theoretisch maximal möglich Rundenlänge definiert (und nicht die Böswilligkeit eines Veranstalters o.Ä.). Bei Knast-Marathons in Oldenburg letzten Herbst und jetzt direkt vor der Haustür in Rosdorf bekam ich die Gelegenheit, es auszuprobieren. Dass ich nach Oldenburg überhaupt ein zweites Mal am Start stand, lag dabei nicht nur in der kurzen Anreise begründet.

Die sich ergebenden Vorteile eines Multi-Rundenlaufs liegen teilweise auf der Hand, teilweise erschließen sie sich aber auch erst durch’s tatsächliche Laufen: Es gibt jeden Kilometer einen VP, wodurch sich das Mitführen von Trinkfläschchen oder Geltüten erübrigt. Man kann ggf. jeden Kilometer das Equipment anpassen (Jacke an/aus, Schuhe wechseln, Mütze, Handschuhe). Man kann jede Runde auf’s Klo. Es gibt (ziemlich bald) keine Überraschungen mehr, was die Streckenführung angeht (Untergrund, Steigungen). Es gibt quasi unbegrenzt viele Foto-Punkte für die Fotographen. Man bleibt (fast) über die Gesamtdauer der Veranstaltung mit allen Teilnehmern zusammen: Entweder man überrundet oder man wird überrundet, auf jeden Fall sollte man am Ende wirklich alle Teilnehmer mehrfach gesehen haben. 

Aber sonst – ist das nicht dann doch irgendwann langweilig? Ich tendiere hier stark zu: ganz im Gegenteil! Es gibt ungeahnt viele Aspekte des Rundenlaufens, auf die man vorab vielleicht nicht kommt, die sich dann aber unterwegs ganz von selbst in die Wahrnehmung schieben: Ist es Zufall, dass ich in jeder Runde diesen Gullydeckel mit dem linken Fuß erwische? Die Pfütze in dieser einen Kurve, die wird ja offenbar von Runde zu Runde kleiner, oh, jetzt ist sie ganz weg! Der Trampelpfad im Gras neben der gemulchten Finn-Bahn, der war doch am Anfang noch nicht da? Kann ich es wagen, in der Linkskurve noch enger um den Pfosten des Tores herumzulaufen, ohne zu riskieren, mir meine Schulter anzuhauen? Oh, jetzt hat die Besetzung des Wachpostens am zweiten VW-Bus gewechselt! Wo befindet sich mein "Konkurrent" (lat. =‚zusammenlaufen‘) diesmal, wenn ich an dem einen bestimmten Punkt bin, von dem aus man die Hälfte der Runde überblicken kann? (Man, läuft der gleichmässig!). Du kommst eben einfach an jedem Streckenpunkt nicht wie sonst nur einmal, sondern x-Mal vorbei, kannst beim ersten Mal nach rechts (die Mauer), beim zweiten Mal nach links (die Zellenhäuser), beim dritten Mal nach oben (die Stacheldrahtrollen) schauen, und dann wieder von vorn, denn die wandernden Schatten verändern alles ständig.

Es kann tatsächlich passieren, dass man über diese epochalen Beobachtungen alles vergisst und plötzlich ist man in Runde 29 und es sind nur noch 9 to go. Das macht es wirklich einfach! Allerdings – ist der Gedanke „nur noch x Runden“ erst einmal gedacht, wird es doch noch gewohnt hart, das Marathon-Ziel zu erreichen. Es wäre ja so einfach und bequem, einfach aufzuhören, ohne aufwändigen Rücktransport bei einem DNF!

Hier hilft der besondere Hintergrund des Laufes. Es geht ja nicht primär darum, dass irgendwelche Lauf-Verrückten eine weitere Möglichkeit bekommen, einen "neuen" Marathon auf ihre Liste setzen zu können. Es geht vor allem darum, dass wenige, sozusagen handverlesene Häftlinge sich nach einer gewissen Trainingsphase einer Wettkampfsituation stellen können, bei der sie nicht wie sonst auf ihre noch kürzere Sportplatz-Trainingsrunde und mit den immer gleichen Gesichtern beschränkt bleiben, sondern in einem größeren Teilnehmerfeld durch sonst verschlossene Zwischentore unterwegs sein können und prüfen oder erfahren können, wie weit ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit schon gereift ist. Vor diesem Hintergrund ist es Ehrensache, dass ich durchhalte und durchlaufe, obwohl es vermeintlich um nichts geht. Tatsächlich geht es hier für Einige um mehr als irgendwo sonst.

Wer im Kreis läuft, kann weiterkommen. Mit Sicherheit gilt das im Sonderfall eines Knast-Marathons für alle Beteiligten, unabhängig davon, auf welcher Seite der Mauer sie gerade leben. Es hat mich gefreut, dass Einige, die ich in Oldenburg kennengelernt hatte, jetzt wieder dabei waren. Teilweise haben sie inzwischen "die Seiten" gewechselt (und das ausschließlich in der anzustrebenden Richtung).


Montag, 7. Juli 2014

Vergiss Biel



Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist natürlich mit dieser Überschrift nicht gemeint: „Biel kann man (als 100km-Lauf) vergessen!“ Nein, dieser Text ist wieder mal rein ego-zentrisch, und somit ist dieser Leitsatz (zunächst!) als Aufruf an mich selbst gedacht: „Vergiss Biel!“ (und dein dortiges zweites DNF beim 4. Versuch). Inwieweit weitere Deutungsmöglichkeiten hinzukommen, werden wir im Laufe des Textes sehen…

Wie macht man ein 100k-DNF vergessen? Indem man einen 100k-Lauf finisht, das ist nahe liegend. Nicht unbedingt nahe liegend mag sein, dass man diesen nächsten 100k-Lauf auf die Minute genau 3 Wochen nach dem Rennausstieg zeitgleich morgens um 04:00 beginnt und ihn damit auch unter diesem Aspekt in gewisser Weise fortsetzt bzw. zu Ende bringt. Das geht wohl definitiv nur in der gewählten Kombination Biel / thüringenUltra. Mit „fortsetzen“ kann dabei nur die gedankliche Ebene gemeint sein, denn was haben Biel und tU gemeinsam außer der Distanz? Nicht viel! Startgeld, Teilnehmerzahl, Höhenmeter, Sprache – alles klafft doch deutlich auseinander. Aber was wären wir ohne diesen Strauß an Möglichkeiten!

Bei der Anfahrt an Eisenach vorbei grüßt der anlässlich des Rennsteig-Ultra von mir leicht hassgeliebte Inselsberg, und ich bin froh, morgen nicht über ihn, sondern nur um ihn herum laufen zu müssen. Die Abfahrt Waltershausen ist schnell erreicht, und tatsächlich finde ich meinen Weg durch diese unglaubliche Zone aus McDoof, Baumärkten, Speditionen und Betrieben aller Art und bin beruhigt, dass sie wenigstens das nette Dörfchen Fröttstädt nicht gleich auch noch mit solch einer Mega-Halle überbaut haben.
Schon vom Auto aus erkenne ich die auf den Asphalt gesprühten gelben U-Symbole für die Laufroute und habe so kein Problem, die Lokalität Dorfgemeinschaftshaus / Sportplatz zu finden. Selbst zu dieser frühen Stunde (15.30) sind bereits motivierte Einweiser vor Ort und so stehe ich schnell auf einer traumhaften, sattgrünen Wiese zwischen Apfelbäumen, 50m vom Ziel-Banner entfernt, und kann mir sogar noch einen geeigneten Platz aussuchen. Geeignet heisst heute – Schatten muss her, denn es sind 29°C und der Himmel ist fast wolkenlos. Gut, dass wir erst morgen laufen, wo „nur“ 24° und ein paar Gewitter angesagt sind.

Kaum habe ich mit dem Zeltaufbau begonnen, steht auch schon der race director himself neben mir und begrüßt mich. Ja, eigentlich wollte ich hier schon seit Jahren starten, aber der Termin fiel oft in die Ferien und da war es urlaubsfamilientechnisch immer schwierig. Dann erscheint der allseits bekannte und beliebte Ultra-Texaner mit dem schwäbischen Akzent auf der Szene. Wir haben Großes für morgen vor – ich jedenfalls, denn ich will mindestens bis zum 1. Checkpoint bei ihm bleiben, um die Gefahr des Überpacens zu minimieren (und mal „in Ruhe“ mit ihm zu quatschen). André hat hier schon 5mal gefinisht und dabei immer sehr konstant ein Zeitfenster von etwas über 12 Stunden getroffen. Angesichts der knapp 2.300 Höhenmeter und der meist herrschenden hohen Temperaturen auch für mich eine Zeit, die einen passenden Rahmen darstellen könnte. Vergiss Biel – meine 9.30er-Zeiten von dort sind hier garantiert nichts wert bzw. unerheblich (ok, surprise, surprise, vergiss auch diesen Plan – immerhin: die ersten 5k sind wir zusammengelaufen, und das in der selben AK, was nur alle 5 Jahre möglich ist).

Nach dem Abholen der Startunterlagen (der Astra bekommt endlich mal wieder einen neuen Aufkleber!) trinken wir unser erstes bleifreies Weizen unter diesem reizenden Freisitz, der wie gemacht für dieses Wetter ist. Urlaub pur, sozusagen. Was André eigentlich (konkret) beruflich mache, frage ich ihn, ohne zu ahnen, dass die uns beide nicht sehr erhellende Antwort „operations“ (jetzt nicht im medizi­nischen Sinne zu verstehen) ihn angeblich während des gesamten Laufs beschäftigen sollte und er im Laktat-Rausch dann doch noch eine zumindest ihn befriedigende Übersetzung fin­den wird. Wenn man bei einem 100k-Lauf sonst keine Probleme hat – herzlichen Glückwunsch!

In der Garage eines neuen Anbaus gibt es später das an diesem Tag natürlich unvermeidliche public viewing, es ist immerhin Viertelfinale! Ich weiss nicht, wann sich die ersten dort ihre Sitz- (und Sicht!-) Plätze gesichert haben: Um kurz vor Anpfiff hat man jedenfalls keine Chance mehr und eigentlich muss ich mich ja eh auf andere Sachen konzentrieren. Drop Bag? Ja / nein / wie viele / wohin / Inhalt? Rucksack ja / nein? Welche Schuhe? Das ist der Nachteil der Auto-Anreise – man drückt sich vor Entscheidungen zu Hause und die Karre ist dann einfach zu voll mit Optionen. Letztlich nehme ich den Rucksack mit 1,5l-Blase mit (Gott sei Dank, sag ich nur im Nachhinein …), u.a. weil da alle Gels und auch ein Regenjäckchen reinpassen. Auf 700m NN ist bei Gewitter der Sommer ganz schnell vorbei, machen wir uns da nichts vor! Die Pure Grit II gehören zur Start-Formation (und tuen ihren Dienst dann ganz passabel und außer einer winzigen Blase gibt es keinerlei "bleibende" Spuren), die Pure Flow kommen zum Einwechseln in den (einzigen) Dropbag für km54 (2. checkpoint). Natürlich hab ich die Schuhe dann doch nicht getauscht, obwohl zumindest das Ausziehen der Treter allein wg. diverser Steinchen (Gamaschen? Vergessen!!!) angesagt gewesen wäre – aber man kennt das ja: Nach dieser Distanz mach ich keine überflüssige Bewegung mehr, und die Doppelschleife krieg ich da schon mal gar nicht mehr auf mit den unbeweglichen Fingern.

Nachdem ich dann mit leichtem Groll mein Zelt um 180° gedreht habe, um nicht über die Motorhaube eines später angekommenen Mitstreiters in meinen Eingang klettern zu müssen, ist wohl alles perfekt vorbereitet, der Wecker natürlich völlig überflüssigerweise auf 03:00 gestellt und alles klar für eine milde (selbst der dünne pro-forma-Schlafsack ist noch zu warm), ruhige (Schade, dass die Autobahn auch nachts auf hat) und entspannte (hahaha) Nacht. Unglaublich, aber wahr: gegen 1 Uhr werde ich von – Regentropfen! – geweckt, die auf’s Zelt prasseln. Gut – „prasseln“ ist etwas übertrieben, aber es regnet auf jeden Fall für ca. 1h, und ich erinnere mich an den Elm-Lauf, wo alle Wetter-Portale einig waren, dass es im Vorfeld trocken bleiben würde, und wir dann auf einer gleichfalls lieblichen, aber trotzdem klitschnassen Wiese saßen. Nun, so schlimm wurde es hier nicht, und da man einmal wach war, konnte man auch aufstehen, die Schlafzeit betrug geschätze 2 Stunden. Das Auto-Thermometer sagt 17.5°, und das ist doch mal ein Wort, morgens um drei. Kein Problem, sich mitten in der Nacht gleich lauffertig anzuziehen und dabei nicht zu frieren.

Erst jetzt morgens vor dem Start erhält man seinen frisch auf die Startnummer kodierten Zeitmess-Chip, der – Novum! – am Handgelenk zu tragen ist und ab und zu (grün) vor sich hinblinkt, was ich als Zeichen verstehe, dass er noch lebt. Die Zeitmess-Firma SportIdent erscheint mir, nicht zuletzt wegen der umfassenden Auswertungsmöglichkeiten im Nachgang, als sehr professionell (übrigens genau wie DataSport in Biel!). Es folgt eine launige Ansprache der Orga und schon schlurfen wir Richtung Start-Banner. Der Himmel zeigt zwar bereits Spuren von Dämmerung, aber am Boden ist noch schwarze Nacht. Das wird aber schnell vorbei sein und die ersten 5km gehen noch über einfache Wege durch die Prärie, sodass sich Stirnlampen erübrigen. Nur Texaner tragen eine, sogar über die Gesamtdistanz.

Der 8. thüringenUltra (mein 1.) hat begonnen! Es gibt kein Zurück mehr und nur diese eine, einfach, aber brutale Option: Finishen! Vergiss Biel – die Erklärungen (Nachtlauf gegen die Körperrhythmen und -funktionen) ziehen hier alle nicht! Klar, um 04:00 bin ich auch noch nie losgelaufen, aber da stehen andere Leute jeden Tag auf. Zeit egal, denn (und das macht Erst-Läufe so angenehm): es wird auf jeden Fall die Lauf-PB. Und wenn da die Latte nicht ganz so hoch gelegt wird, wird es beim nächsten Mal einfacher, eine neue Marke zu setzen (und das ist bei mir eigentlich immer Pflicht, Ausnahme: BC). 

Ein bisschen mulmig wird mir schon, weil der Toilettengang vor dem Start „nicht nötig“ war und es nach einigen km anfängt, in den Gedärmen zu rumpeln und zu poltern. Nicht schon wieder! Ich bin wach genug, mich an so etwas wie Bauch-Atmung zu erinnern und sie auf entspannenden Bergab-Passagen zu praktizieren. Dies führt letztlich zum Erfolg bei km16.

Ok, was gibt es zur Strecke generell zu sagen? Sie ist (erstaunlich genau) 100km lang. Und sie ist ultra-abwechslungsreich. Prärie, Laubwald, Nadelwald, (wenige) Dörfchen, Wiesen, Felder, lila Fingerhüte, weiße Fingerhüte, Teiche, Stauseen, Industriezone, Asphalt, Forststraßen (glatte und grobschottrige, nach links hängende, nach rechts hängende), Wanderwege, Trails, einige km (jetzt aspaltierte) Bahnstrecke mit (herrlich kühlem) Tunnel, bergauf, bergab, wenig ebene Abschnitte, 2mal über die Kammlinie des Thüringer Waldes bei ca. 750m NN. Ich hab mich definitiv nicht gelangweilt in den 11 Stunden – super! Der Rennsteig hat dagegen seine Längen, in Biel sieht man notgedrungen nicht so viel.  Und dann die VPs. Ja, es gehört ja fast zum guten Ton, diese bzw. die Menschen, die sie eigentlich ausmachen, bei den meisten Läufen hervorzuheben. Ist ja auch in Ordnung. Manchmal gibt es trotzdem noch Steigerungen. Wenn man unaufgefordert bei km80+ mit einer Gießkanne beträufelt wird und überall Melone, Gurke, Tomate und bleifreies Bier (meine lebensrettende Entdeckung des Tages!) bereitstehen, ja, dann vergebe ich gerne die Maximalpunktzahl (aber die hab ich wie gesagt schon oft vergeben). Will nur heißen: PERFEKT! Wie der ganze Lauf. Drop bags, Wertsachenauf­bewahrung, Übernachtung, Soforturkunde - noch dazu auf einem Papier, das der Leistung der Teilnehmer und der Orga gerecht wird: fett!, Versorgung vor und nach dem Lauf (ok, hier ist der vegetarische Anteil noch ausbaufähig). Dann die Markierung, bei solch einem Trip sicher nicht ganz unerheblich: einfach sensationell! Ich habe mir unterwegs immer vorgestellt, wie das Team die geeigneten Stellen/Steinplatten/Baumstümpfe/Abflussrinnen ausgesucht, ggf. liebevoll von Staub befreit und dann bepinselt hat. GPS-Track komplett überflüssig. Ich bin versucht zu sagen, man sollte Didi dort mal ohne Guide laufen lassen (sorry, ihr wisst, was ich meine).

Details? – Nicht viele, irgendwie ist alles eine Wolke. Obwohl ich den Grundverlauf der Strecke vorher oft studiert habe, hab ich unterwegs teilweise die Orientierung (was war schon, was kommt noch) verloren und wunderte mich abschnittsweise über die Position der Sonne. 11 Stunden sind so lang, man sieht so viel, der Speicher reicht nicht. Da war der mit Lautsprecheranlage bewaffnete Posten bei km21 am Ortsrand von Ruhla, der kurz nach 6 Uhr morgens dem noch schlafenden Talkessel verkündete, welche Größen des Ultra-Laufsports gerade diesen denkwürdigen Ort passierten. Das stundenlange Jojo-Spiel mit den Fahrradbegleitern, bergauf überholt man sie bei noch über­raschend mässigen Steigungen, sie keuchen oft mehr als man selbst, bergab schießen sie an dir vorbei und du bist neidisch, weil sie sich etwas ausruhen können. Dennoch wissen auch sie am Ende des Tages mit Sicherheit, was sie getan haben. Die Kontrollblicke auf die Startnummern der mich überholenden Läufer, wobei es sich beruhigenderweise in der Mehrzahl um eine Stunde später gestartete Staffelteilnehmer handelte, die sich nicht selten sogar dafür entschuldigten, vorbeiziehen zu müssen. Da waren die langen Passagen auf frischem Grobschotter, wo man besser doch auf den Weg guckt, obwohl der im Prinzip einfach ist. Wann werden endlich Schuhe erfunden, die die seitliche Längsneigung der Forststraßen durch keilförmige Sohlenquerschnitte ausgleichen? Ok, man müsste sich im Vorfeld für "linker" oder "rechter" Rand entscheiden, vllt. doch nicht so praktikabel. Ein paar Bekannte hab ich überholt (das brennt sich halt ein, wenn man damit nicht rechnet, siehe Elm-Trail). Superschön – halt einfach "schön" - war die Landschaft und die Ausblicke bei km15, zwischen km32 und 36 (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Die Bahnstrecke runter nach Floh-Seligenstadt war im wahrsten Sinne des Wortes die Härte, der Rück-Aufstieg zur Ebertswiese nicht so schlimm wie erwartet, der Wiesen-Trail hinunter nach Tambach sagenhaft. Warum sind die Bergab-Abschnitte immer so kurz und steil, dass man sie kaum laufen kann (km79) und sie kaum Erholung oder Zeitgutmachen ermöglichen?

Aber dann kam der Abschnitt ab km85. Der war anders – und ich werde ihn so schnell nicht vergessen! Da muss ich schon etwas genauer drauf eingehen. Laut Veranstalter gibt es 17 VPs. Richtig müsste es heißen: „Mindestens“ 17 VPs. Denn auf einmal stehen teilweise alle 50m auf kleinen Tischchen vor den Häusern oder Datschen an den Ortsrändern zumindest Wasserwannen mit Schwamm, oft aber sogar noch diverse Getränke, einmal plätschert sogar eine kühle Gartendusche. In der Mittagsglut oft unbemannte Stationen der Anteilnahme und Liebenswürdigkeit, die ich (jetzt 44 Ultras) so noch nicht erlebt habe. Unbemannt? - Nicht immer. Manchmal lassen es sich die Kinder nicht nehmen, einem den Wasserbecher entgegenzutragen und ahnen dabei vielleicht gar nicht, wie dankbar man ihnen dafür ist. Oder das Rentnerpärchen bei km89 (und wohl ungefähr auch genauso alt), das vor seiner Datsche sitzt und kräftig applaudiert und natürlich auch noch eine kleine Versorgungsstation aufgebaut hat. Es treibt mir spontan das Wasser in die Augen und ich bekomme diesen Kloß im Hals, den ich sonst nur von der Vorab-Visualisierung des Ziel-Durchlaufs kenne und der mir gefährlicherweise für ca. 300m den Atem nimmt. Hinter der nächsten Kurve hat jemand aus (knochentrockenen) Pferdeäpfeln das tU-Markierungssymbol am Wegrand nachgebildet. Ich frage mich, ob es ein wohl Teilnehmer oder ein Spaziergänger war. Dann endet der Thüringer Wald plötzlich und man steht wieder am Rand der Prärie, die es nun erneut zu queren gilt und die ihrem Ruf (heiß, flach, staubig) alle Ehre macht. Der Südwind kommt genau von hinten, und so hat man den Eindruck, die Luft steht. Dann sogar eine Fata Morgana: In der Ferne am Horizont (an dem erfreulicherweise auch schon die überdimensionalen blauen Fabrikhallen vor Fröttstädt zu erkennen sind) taucht im Flimmern ein merkwürdiges Tor auf, das da mitten auf dem Acker steht. Beim Näherkommen wird klar: das ist der berühmte VP 95km, an dem man – so die Lautsprecher­durchsage – die sieben hübschesten Frauen Thüringens umarmen darf. Das möchte ich bei aller Wertschätzung in meinem verklebten Zustand aber keiner zumuten – nur die jüngste (geschätzt 9 Jahre alt) kommt in den zweifelhaften Genuss. Alles was dann bis zum Ziel noch folgt ist ein mittlerer Alptraum, den durchlebt zu haben am Ende wieder etwas Positives hat: Kilometerlange Geraden, menschenleer, durch die Industrie-Zone, der Kampf (?) gegen die tickende Uhr („Wieviel darf ich bei der Reststrecke noch gehen, um noch unter 11 Stunden zu bleiben?“), was - jetzt kommt erst die Autobahn-Unterführung? - der nahende, gefühlte Hitzetod, die Komplett-Krämpfe in den Unterschenkeln, die mich mehrmals zum Stehenbleiben zwingen. Am Ende siegt die Vernunft, für eine 10:59 nicht noch ein richtig böses Ende zu riskieren, und so laufe (!) ich in einer ehrlichen 11:01 – natürlich mit persönlicher Ansage, die durch im Dorf stationierte Vorab-Posten auch dann garantiert wird, wenn man seine Startnummer hinten auf dem Rucksack trägt – ins Ziel. Mein 3. Finish über die 100k, yes! Nach 10 sec. ist mein Chip abgenommen und ich bekomme einen Auswertungsbon in die Hand gedrückt, der mich überraschenderweise als 4. der (wie in letzter Zeit so oft zahlenmässig größten) AK50 ausweist. Ich bin überrascht und zufrieden und nehme die 50m bis zum Zelt in Angriff, ziehe irgendwie die Matte raus und lasse mich in den Schatten fallen. Die nächste halbe Stunde ist geprägt von Versuchen, die Beinmuskulatur zu entspannen, was aber zu immer neuen, teilweise krassen Krämpfen führt. Hoffentlich hat mich niemand beobachtet, wie ich mehrfach wie von der Tarantel gestochen aufspringen muss. Trotzdem: unter dem Strich ein „gutes finish“, mir geht’s gut, ich habe Durst und Appetit und nach einer Stunde spielen auch die Gräten beim Gang zur Dusche (warm!) wieder mit.

Es ist einfach nur herrlich, im himmelblauen 1-Stern-Finisher-Shirt auf der Wiese zu liegen, und die Zieldurchsagen mit den vielen bekannten Namen zu hören. Pünktlich wie ein Maurer kommt nach 12:20h André an, und erzählt mir nach der Gratulation als erstes, dass er die passende Übersetzung für „operations“ gefunden habe. Der tU macht einfach jeden glücklich.

Was geht mir durch den Kopf? Mehr als 100km? Niemals! Nochmal Rennsteig? Nö. Nochmal Biel? Nö. Nächstes Jahr den 2. Stern holen? Muss nicht nächstes Jahr sein, aber bestimmt irgendwann. Auf jeden Fall gehört der tU - nicht allein der Strecke wegen - in meine geheime Liga der besonderen Läufe. Dort gibt es nur 5 Tabellenplätze. Wenn einer aufsteigt, muss einer absteigen, das ist so einfach wie beim Fußball.

Einmal im Leben solltest du nach Fröttstädt.