Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Lehrmeisterin

"BC 2016 - here we go!"
- wie auch anders - werden wir pünktlich von Markus auf die Reise geschickt. Für mich in jedem Jahr auf's Neue eine Reise ins Ungewisse, auch wenn der Track inzwischen unlöschbar auf meiner Festplatte eingraviert ist.



VIII. 2015.
Ich bin die Brockenbahn.
Gleichmässig sausen die Treibstangen an meinen Rädern nach vorne und hinten, links, rechts, links. Rechts, links, rechts. Es sind die Laufstöcke, die ich mittig in den Händen halte und die so abwechselnd links und rechts nach vorne stoßen. Der Blick ist auf den unter mir hindurch ziehenden schneebedeckten Boden gerichtet. Ich muss nicht steuern, die Schienen werden mich führen, bloß nicht aufschauen, voraus in diese endlose Steigung des Entsafters kurz vor dem Jagdkopf. Rhythmus finden. Links, rechts, links. Rechts, links, rechts. Niemanden einholen wollen. Sich überholen lassen, wenn es nötig ist, aber auf Spur und im Rhythmus bleiben. Wasser auffüllen und Kohlen nachlegen, das ist alles, was erforderlich ist, um die Maschine in Gang zu halten.
Ich bin eine Lauf-Maschine.


V. 2012
Der Gipfel ist heute nicht drin. Ich will einfach nur noch überleben, nicht erfrieren in diesem sonnendurchfluteten, aber arktischen Wald. Den ganzen Tag über hatten wir heute zweistellige Minusgrade. Eiskalten Gegenwind vor Barbis, wo ich bereits alles anhatte, was für den Oberharz vorgesehen war. Noch ein knapper Kilometer bis Königskrug, dann ist heute Schluß. Mir ist schlecht, von der Brühe bei Lausebuche. Ich hatte vergessen zu fragen, ob sie vegetarisch sei [war sie nicht]. Auf der langen Geraden kurz vor dem VP kotze ich mir die Seele aus dem Leib und komme kaum diesen einen letzten Hügel hoch. Die Touristen überholen mich. Was für eine Demütigung. Die Kurve, bevor man die B4 überqueren muss. Endlich! - Auf dem Parkplatz steht ein Auto mit geöffneter Beifahrertür. Da sehe ich Michel drin sitzen. "Ich bin raus!" ruft er mir zu. Es durchzuckt mich ganz unerwartet. So sieht also ein dnf aus? - Ich merke, dass ich Abstand halte zu dem Wagen, in den ich mich jetzt so einfach auch reinfallen lassen könnte, keine Ahnung, wer oder was da gegensteuert. Es schießen mir auch keine Sprüche wie: "DNF - no option!" oder so in den Sinn. Ich gehe einfach mechanisch vorbei, weiter Richtung VP. Dort trinke ich Cola. Herwarth raunzt, ich hätte schon schlechter ausgesehen, er meint wahrscheinlich 2010. Das überrascht mich. Und genauso klar und endgültig, wie ich vor 15 Minuten noch wußte, dass es heute kein Finish geben kann, spüre ich plötzlich förmlich, dass ich da heute noch hoch komme, weil ich noch hoch kommen möchte, und dies auch verantworten kann. Später wandere ich an der Brockenbahn bei klirrender Kälte in den warm-orangen Sonnenuntergang hinein. Was für eine großartige Belohnung!
(c) André Boom


VII. 2014
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fährt mir auf dem freien Feld nach der Überquerung der kleinen Landstrasse kurz hinter Barbis der Krampf in die Waden - ja, in beide! - und ich schlage fast hin. Bis dahin war alles gut gelaufen, und ich war so früh in Barbis durchgekommen wie noch nie. Als die Krämpfe raus sind und ich wieder antraben kann merke ich, das nichts mehr geht (bzw. läuft). Dieses Kippen eines Laufes von 'alles auf go' zu 'nichts geht mehr' innerhalb von wenigen Minuten und Metern, ohne einen plausiblen Grund dafür finden zu können, das ist etwas, was ich heute in seiner bisher krassesten Ausprägung erlebe. Zurück nach Barbis? Kaum 2km wären das! - Aber zurück in einem Rennen? Niemals! Und weiter Richtung Ziel bedeutet: Mindestens bis Lausebuche. Ich weiss jedoch genau, dass wenn ich dort ankommen werde, es keinen Grund mehr geben wird, nicht auch den ganzen Weg hinter mich zu bringen. Ich grinse innerlich. "Well, let's hike!" Eine schier unendliche Geduldsprobe. 36km! Ich erfahre, wie man sich fühlt, wenn man stundenlang von Dutzenden Läufern überholt wird, von denen viele noch nie zuvor vor einem in der Ergebnisliste standen. Und man selbst kein Läufer mehr ist. Hilflos, wehrlos. Man hält das erstaunlicherweise aus. Und gehört im Ziel plötzlich wieder dazu. Trotzdem schade, es waren heute Bestzeit-Bedingungen.



II. 2009
Sanna faselt vom Aussteigen. Wir sind zusammen an der Lausebuche angekommen. Die Bedingungen waren wesentlich härter als 2008 - unserem ersten Ultra -, als der erste ernstzunehmende Schnee erst hinter Oderbrück auftauchte. Von Anbeginn an waren wir heute auf einer vereisten Piste unterwegs gewesen, unglaublich kraftzehrend. Die Tatsache, dass man am Jagdkopf erst gut die Hälfte des Entsafters hinter sich hat und von dort nochmal mehr als 9 wellige, verschneite Kilometer bis zur Lausebuche zu bewältigen sind - und nicht nur 5, wie sie fälschlich erinnerte, hatte ihre Motivation gebrochen. Aber das verstand ich in diesem Moment nicht. Und das war gut so. Ich tat es als normales Gejammer ab. Klar will jeder nach 63km bei solchen Bedingungen lieber sofort aufhören und sich hinsetzen und sitzen bleiben. Also weiter! "Ich will aber aufhören!" - "Nein, das machen wir jetzt nicht!" - Wenn man zusammen unterwegs ist, saugt man enorme Energie aus dem Wissen, dass es dem Anderen schlechter geht als einem selbst. Vornweg zu laufen und sich immer wieder umdrehen zu können, wo der Andere bleibt, kann dich in eine ziemliche Euphorie bringen. In eine gefährliche Euphorie. Auf dem letzten Kilometer drehten sich die Verhältnisse daher wohl nicht ganz zufällig um: Ich bin stehend k.o., Sanna muss warten, bis ich mühsam die letzten 100m bis zum Zielbanner bewältigt habe. Alleine hätten wir es beide an diesem Tag vielleicht nicht geschafft.


IV.2011
Eine langweilige BC? Das dachten wir alle lange Zeit, als wir nach getaner Arbeit noch im Goethe-Saal saßen. Es herrschten einfache Streckenverhältnisse und stabiles Wetter, jedenfalls bis zum späten Nachmittag. Ich komme fast eine Stunde früher oben an als bisher. Alles auf der 2. Hälfte rausgelaufen. Nur die zählt bei der BC.
Stabiles Wetter? Nun, das galt während des Laufs. Gegen 19 Uhr fängt es an zu schneien, und zwar ordentlich. Auf dem Weg runter vom Brocken stürzen einige heftig, weil der Neuschnee die Eisplatten aus dem jetzt gefrorenen Schmelzwasserabfluss des Tages überweht hatte. Die BC ist wirklich nicht auf dem Gipfel zu Ende!
Dann sitzen wir (damals noch) im altehrwürdigen Hotel König in Schierke und warten auf die Busse, die uns nach Göttingen zurückbringen sollen. Irgendwann ein Anruf: Sie kommen wegen des Schnees die Steigung vom Oderstausee nach Braunlage nicht hoch! - Die BC ist offenbar auch in Schierke noch nicht zu Ende.
In der Folge hat man ausgiebig Zeit für Charakterstudien: Es gibt Teilnehmer, die sich über die "Scheiß-Orga" aufregen und "endlich nach Hause" wollen, und es gibt Teilnehmer, die damals schon ein Smartphone haben und die Taxi-Unternehmer im Harz abklappern und alle verfügbaren VW-Busse nach Schierke beordern. Irgendwann sehr weit nach Mitternacht sind wir wieder am Tanzsaal. Niemand (!) von den Etlichen, die bei uns ein Bus-Ticket bezahlt hatten und jetzt zusätzlich das Taxi berappen mussten, wendet sich im Nachgang mit Rückforderungen an uns. Alles echte Sportler.


I. 2008
Rückblickend kann man aus der Tatsache, dass Sanna und ich damals ziemlich problemlos da hochgekommen sind, nur eines lernen: Der Kopf, der Kopf, der Kopf entscheidet - und dann kommt lange nichts!
In der ersten Januar-Woche (2008!) hörte ich das Wort "Brocken-Challenge" das erste Mal in meinem Leben. Irgendein Irrer (der Name ist mir heute bekannt) hatte einen Info-Zettel in die Kantine von Elkershausen gehängt. 80km? Ich kann aus heutiger Sicht wirklich nicht darlegen, wie verrückt und abwegig ich dies damals fand. Man kann sich nicht zurückversetzen in Zeiten, wo Marathon ein Lebensziel war und UTMB, Hexenstieg oder TorTour de Ruhr entweder noch nicht erfunden oder mir einfach unbekannt waren. Aber sie wollte da mitmachen und ich erklärte sie für verrückt. Ich werde nicht vergessen, wie wir eines Sonntagmorgens im Bett frühstückten und sie Markus Ohlef anrief, um überhaupt die ersten Infos zum Lauf einzuholen. Eine Homepage i.e.S. gab es noch nicht. Es wurde ein langes Telefonat. Am Ende stand ihr Entschluss fest und der Rest des Sonntags verlief weniger harmonisch.
Gut, da ich als Supporter sowieso in die Nummer verwickelt worden wäre, konnte ich auch gleich selbst mitlaufen. Mit einem einzigen zuvor gelaufenen Marathon in den Beinen und gestählt durch 150 Trainings-Kilometer in den drei(!) Monaten(!) vor dem Start fand ich mich also am Kehr ein und beantwortete Interview-Fragen der Form: "Wie wird man eigentlich Ultra-Läufer?"
Fakt ist, dass ich in einer Zeit dort hoch kam, die ich fast minutengenau noch in drei weiteren BCs erreichte, wenn auch die jeweiligen Gesamt-Verläufe teilweise krass unterschiedlich waren. Ich hatte mir einen einzigen Satz in das Hirn gehämmert:
"Du bewegst Dich heute mindestens 12 Stunden, und dann wirst Du oben sein."
Dadurch wurden pace, zurückgelegte und noch ausstehende Kilometer unbedeutend.
Nach 10:22h war ich auf dem Gipfel, 25min nach Sanna.


VI. 2013
Beginnen wir einfach mit dem Zeitpunkt der Rückkehr nach Hause nach dem briefing. Das ist immer der Moment, wo ich denke:
a. negative Variante: "Mann, ich möchte einmal im Leben ausgeruht am Start der BC stehen!" (Um ehrlich zu sein: 2008, wo ich noch nicht wusste, was der ASFM ist, war das auch der Fall.)
b. positive Variante: "So, und jetzt mal richtig auspennen und dann morgen schön ins Café setzen, Zeitung lesen und bloß nicht mehr an die BC denken."
Es gibt kaum einen Moment im Jahr, an dem ich "leerer" bin, ausgelaugt von den ganzen Vorbereitungsdetails der letzten Tage und den dazwischen noch reingequetschten letzten "Pflicht-Trainings". Aber diese Leere bringt mich dann schnell wieder zu der Einsicht, dass dies genau der richtige Zustand sei, morgen "joggen" zu gehen und nicht mehr denken und grübeln zu müssen, sondern nur noch zu laufen, zu laufen, zu laufen.
Und dann wieder der Alte Tanzsaal. Plötzlich ist die BC da und alles andere existiert nicht mehr.
Es lohnt sich, für dieses Gefühl viele Wochen im Jahr die BC in den Lebens-Mittelpunkt zu rücken.
Und es lohnt sich, die Gefühle der Ohnmacht und der Wut, die sich heute im Entsafter II aufzubauen versuchen, weil die Schneeverhältnisse wieder einmal katastrophal sind und man lange Abschnitte kaum gehen geschweige denn laufen kann, in Schach zu halten. Nein, keine Wut! Dies ist dein Schicksal als Challenger - und du wirst morgen geniessen, es wieder durchlitten zu haben.


III. 2010
Die Forstwirte hatten schon vor Wochen vor den Schneemassen kapituliert und das Freischieben der Strecken im Entsafter eingestellt. Die Berichte und Bilder, die uns von den Markierungsteams zwei Tage vor dem Start erreichten, waren beunruhigend. War die Chose dieses Jahr wirklich noch zu verantworten? Fakt war, dass die endgültige Route zum Zeitpunkt des Starts nicht völlig feststand. Das wusste GsD nur die Orga selbst. Der Bus-Shuttle am oberen Ende des Oder-Stausees wurde sozusagen in letzter Minute etabliert. Markus hat starke Nerven.
Wenn Du nach über 12 Stunden und 6 zusätzlichen Kilometern mit etlichen Sonder-Höhenmetern im Tiefschnee am Gipfel ankommst und denkst: "Nichts geht mehr!" - dann hilft dir manchmal die "Realität" zu erkennen, dass dem nicht so ist: Auch die Fahrzeuge der Johanniter müssen dieses Jahr vor den Schneemassen kapitulieren und kommen trotz Schneeketten nicht zum Gipfel hoch. Das bedeutet: Zusätzliche (ungeplante) Wanderung nach Schierke. Bisher waren wir immer mit dem Johanniter-Shuttle nach unten gefahren worden. Es sind weniger die weiteren Kilometer als die Tatsache, dass dies eine unerwartete Situation ist, mit der du dich plötzlich auseinandersetzen musst. Und du musst mit ihr klar kommen, denn es gibt keine Alternative. Man schafft erheblich mehr als man denkt oder für möglich hält, selbst wenn die Messlatte schon ziemlich weit oben liegt.


IX. 2016
Meine Güte: Neun in Folge! Damit nimmt die BC inzwischen eine Ausnahmestellung in meiner neunjährigen Laufkarriere ein, nur 2 lokale Zehner bin ich noch ein Mal mehr gerannt.
Die BC ist eine Haßliebe geworden - nein, das war sie von Anfang an. Der Lauf liegt mir nicht. Ein Treppenwitz. Auf Schnee bin ich letzte Kanone. Und auch der Weg bis Barbis führt - vor allem, wenn alles Grau in Grau ist - über eine Strecke, auf die man sich - bis auf Ausnahmen - freiwillig wohl kaum begeben würde. Aber genau das macht ihn zu einem Teil der Challenge, das habe ich inzwischen begriffen. Und daher wird die Route auch nicht verändert. Die zweite Hälfte führt meist moderat bergauf, im Prinzip kein Problem, aber eben nicht auf Schnee. Offenbar laufe ich darauf/darin ziemlich unökonomisch. Jedenfalls kann ich bei der BC Konkurrenz von Läufern bekommen, die ich im Sommer regelmäßig klar hinter mir lasse.
Warum trotzdem immer wieder diesen Lauf?
Die Antwort steht eigentlich schon weiter oben: Weil es keine Ausgabe gab, wo man nicht wenigstens eine neue Erkenntnis mitnahm. Weil keine BC wie die andere ist, auch wenn Du schon viermal fast auf die Minute gleich lang gebraucht hast und genau so oft bei wolkenlosem Himmel unterwegs warst. Weil sich das Wir-Gefühl unter den Teilnehmern immer weiter verfestigt und Du deshalb nie wirklich allein unterwegs bist. Weil es umwerfend ist, wenn du siehst, dass etliche Läufer, die wegen Krankheit oder Verletzung nicht starten können, trotzdem vor Ort sind. Dass Leute von den VP-Teams teilweise mehrere Hundert Kilometer anreisen, um in der Kälte stehen und dabei sein zu können. Weil es nach jeder BC mindestens einen Satz in irgendeinem Laufbericht oder einer mail zu lesen gibt, der dir unzweifelhaft klar macht, dass es sich lohnt, am Ball und Teil des Ganzen zu bleiben und diese schrecklichen winterlichen Stirnlampenläufe im Vorfeld durchzuziehen. Und weil Du Dich nur nach einem BC-Finish und nach der Spendenübergabe mit ein paar Tagen Vorfrühling am Mittelmeer belohnen darfst.
Meine neunte BC war einfach. Schon an der Rhumequelle fühlte ich, dass das gesundheitsbedingt eingeschränkte Training im Januar nicht spurlos an meiner Fitness vorbeigegangen war. Aber ich hatte meine Hausaufgaben gemacht: Alles, worauf es jetzt noch ankam war, das zu dieser Wahrnehmung passende Zitat hervorzukramen und scharf zu schalten: "Kämpfe nicht mit dem Weg - nimm, was er dir gibt!" Das tat ich. "Bis zu dem Baum in der Sonne noch!" - "Ab dem Holzstapel da hinten wieder!" - Am Ende reichte die Motivation und Stimmung sogar noch zum ersten Gipfelstein-Foto nach einem ziemlich entspannten Finish in einer - bis auf einen leichten Sonnenbrand - guten physischen Verfassung.


Lieber Körper, mach' doch noch einmal mit - bei Nr. X!


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