Mittwoch, 6. Februar 2019

Mad Fox Ultra 2019 (Rostow, RU) - Kein Laufbericht

Wie denn auch?
Laufen geht hier heute nicht. Für die allermeisten Normalsterblichen. Auch für die Einheimischen nicht. Dabei sieht es aus der Entfernung völlig harmlos aus: Flächendeckender Schnee zwar, durchaus auch ein paar Zentimeter tiefer - da geht es dann eben ein wenig langsamer voran, mag man denken. Was aber weder von den Bildern noch in den Videos transportiert werden kann (und deswegen gibt es hier auch keine vom Lauf): Das Gefühl, das man hat, wenn man auftritt: Keine Haftung, keine Führung, kein Abdruck. Reines Versinken. Die Kraft, die es bei jedem einzelnen Schritt kostet, den Körper als Ganzes zu kontrollieren und auszubalancieren, nicht ins Wanken und Taumeln zu geraten, und wenn es doch passiert, den Ausgleichsschritt ins Bodenlose zu kompensieren und wieder in die Spur zurück zu finden. Nicht abschnittsweise über wenige Meter, sondern durchgehend, pausenlos, ununterbrochen, über Kilometer, über Stunden.

Wir bewegen uns in einer unendlich anmutenden Kette im Gänsemarsch vorwärts durch das Grau, anfangs noch mit 4km/h, später eher mit 3km/h. Da kommen durchaus Assoziationen auf: Marsch der Verdammten oder so. Und dies ist kein Schaufensterbummel, der Puls ist selbst bei dieser "Geschwindigkeit" schon fast im roten Bereich. Es ist so irre: Schon das Heben des Kopfes, um einfach mal nicht mehr auf diese enge Abfolge von Trittspuren zu starren, die dir aus den Schuhen deines Vordermannes unaufhörlich entgegenquillt, löst meist direkt ein Stolpern zwei Schritte weiter aus. Es ist eine Qual, diese Erkenntnis über Stunden umzusetzen: Du hast hier auf die Spur zu starren, du hast hier in die Abdrücke der Person vor dir zu treten, auch wenn die Schrittlänge kaum mehr einen ganzen Fuß umfasst, wenn du hier deine Kräfte schonen und mit deinen begrenzten Reserven haushalten willst. Und das musst du.

Diese Tour über (eigentlich) 70km ist als autarker Lauf ausgeschrieben. Es gibt keine Verpflegung. An den wenigen Kontrollpunkten, die teilweise planmässig über 20km auseinander liegen, darfst du kaltes Wasser (und falls noch vorhanden: lauwarmen Tee) trinken, aber deine Vorräte für unterwegs nicht auffüllen. Mit einem Schneemobil haben die Veranstalter am Vortag den Track für uns gelegt. Im waldfreien, offenen Bereich abschnittsweise völlig willkürlich. Es gibt dort in den zu dieser Jahreszeit komplett durchgefrorenen Schilfgürteln im ufernahen Bereich des Nero-Sees bei Rostow, 200km nordöstlich von Moskau (nicht zu verwechseln mit Rostow am Don, genau 10 Breitengrade weiter südlich!), keine Wege. Der Bob hinterlässt eigentlich nichts als eine optische Markierung, wo es langgehen soll. Aber er verdichtet nichts. Die ersten Läufer brechen in diesen Untergrund bei jedem Schritt genauso ein wie der 400. Läufer. Ein einziger Schneebrei, Sandschnee, wir kennen das ansatzweise von der Brocken-Challenge, wo das mit BeachVolleyBall umschrieben wurde. Bei jedem Schritt sinkt der komplette Schuh in den Schnee ein. Um das Fußgelenk bildet sich mit der Zeit ein Kranz aus Eisklumpen. Ob man Gamaschen trägt oder nicht, ist mittelfristig egal. Wir haben am Start -6°C. Der Schnee wird nicht wärmer sein. Wie wird es den Zehen in diesen dauerhaft im Schnee versenkten Schuhen nach ein paar Stunden gehen?

Zunächst gehen wir aber logischerweise gar nicht davon aus, dass diese Bedingungen über mehr als 80% der Gesamtstrecke herrschen werden. Als wir nach 6.2km (und 1:21 Std.!) an die Nebenstraße kommen, die südlich des Sees ostwärts nach Поречье-Рыбное (Porech'ye-Rybnoye) führt, gehen mit Sicherheit 99% der Teilnehmer davon aus, dass wir jetzt auf dieser weiterlaufen werden. Es war ja auch angekündigt: Ein Drittel Straße, ein Drittel Trail, ein Drittel Cross (also Schneemobilspur?). Tun wir aber nicht. Absolut weglos geht es 20m seitlich der Strasse im Gebüsch durch den Tiefschnee. Mir wird klar, dass es damit mindestens bis km12 dauern wird, bis sich an den Verhältnissen etwas ändert. Und: Wir müssen diese ersten furchtbaren 12km auch wieder zum Abschluss zurück! - Ich kann mir ehrlich gesagt bereits zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, wie das funktionieren soll. Kräftemäßig, zeitmäßig. Aber ich bin ja nicht letzter, sondern in einer großen, völkerverbindenden Leidensgemeinschaft geschätzt etwas hinter den Mitte des Feldes unterwegs. Überholen unmöglich. Ganz einfach. Größerer Klogang übrigens auch. Also weiter. Denn auch der VP an der Abbiegung scheint nicht für die K70-Teilnehmer bestimmt zu sein - alle laufen durch. Ich fasse es nicht. Was ist hier los?

Die ersten Häuser des Dorfes Поречье-Рыбное, das von einer fast furchteinflößenden, düsteren Kirchturmruine dominiert wird, kommen in Sicht. Hier wird es unseren ersten VP geben. Bin ich mir fast sicher. Da war was mit Edding aufgemalt, auf der großen Wandkarte des Routenverlaufs beim Check-in am Vortag. Am Freitag in Moskau hatten wir während der Anreise per mail erfahren, dass die Eis-Passage über den Nero-See - wie bei der Erstausgabe der Veranstaltung im Dezember 2017 - tabu sein würde. Obwohl wochenlang zuvor zweistellige Minusgrade geherrscht hatten, soll eine spezielle Eisdynamik (google-Übersetzung: "Eis-Schrott") für das oberflächliche Eindringen von Wasser mit der Gefahr des Einbrechens und Durchnässens gesorgt haben. Dadurch kommt es auf den ersten 18km zu einer alternativen Streckenführung rund um die südwestliche Ecke des Sees. Die Enttäuschung darüber hält sich bei uns in Grenzen: Jede Windexposition, die auf dem See natürlich maximal ist, führt hier sofort zu einer drastischen Absenkung der gefühlten Temperatur, und wenn die Alternative schon nicht laufbar ist, so verläuft sie doch hin und wieder im Schutz von Büschen und Bäumchen und ist damit garantiert deutlich "wärmer".

Sowie wir die ersten Häuser und damit auch ein Sträßchen in Поречье-Рыбное erreicht haben, schnellen wir förmlich nach vorn. Es ist, als ob wir bisher gegen ein Gummiband gearbeitet haben, an dem sich jemand hinter uns herziehen ließ. Obwohl der Untergrund immer noch schneebedeckt und vereist ist, geht es jetzt wie von selbst voran. Gut, dann kann man sich jetzt wohl langsam an die pace heranarbeiten, die für ein finish in 12 Stunden erforderlich ist. Wo ist der VP?
Er kommt nicht. Sollte es einen geben? Ich bin mir unsicher, in diesem Teil der Strecke wurde wie gesagt improvisiert. Nicht mal einen offiziellen neuen Track mit den Wegepunkten der Stationen konnte man dazu runterladen, nur die Normalroute und eine Alternative, die wir nicht liefen. Suboptimal. Nach meiner Erinnerung könnte es damit bis km20 oder 21 dauern zur nächsten "Versorgung". Immerhin geht es bis dahin auf einer verschneiten, verkehrsfreien "Straße" durch das Nichts.

Betont verhalten spule ich diese Gerade ab. Urplötzlich endet sie, ohne zu etwas Erkennbarem geführt zu haben und es geht wieder in den Kriechmodus über die Schneemobilspur. Bald darauf ein Fahrzeug und Menschen: Der VP! 20,6km in 3:35 Std.! Es gibt kaltes Wasser aus Kanistern. Meine beiden Thermosflaschen (zusammen nur 0,7l) bekomme ich GsD entgegen der Regeln aufgefüllt, sie gehen wohl als Trinkbecher durch, dabei schüttet der Helfer zu heftig und beide Handschuhe werden durchnässt. Ich wollte mich hier eigentlich in Ruhe verpflegen, aber noch ist diese typsiche Anfangshektik unter den Teilnehmern, die auch mich weiterzieht. In gewisser Weise ist es ja auch egal: Zu essen bekomme ich sowieso nur das, was ich bei mir trage. Noch einmal laufbar geht es über einen freigeschobenen Feldweg, ehe bei km23.5 wieder das Schneemobilspiel beginnt.
Hätte ich geahnt, dass ab hier bis in mein heutiges "Ziel" bei km44.3, das ich geschlagene 5:30 Std später in kompletter Dunkelheit nach insgesamt 9:35Std. erreichen sollte, nichts (ja: nichts! Kein VP, keine Siedlung, keine Straße) mehr vor mir liegen würde als genau das, was eingangs hoffentlich ausreichend plastisch beschrieben wurde - ich wäre mit Sicherheit umgekehrt (und über die Straßen zurückgelaufen). So aber rechnete ich noch fest mit den rechnerisch verbleibenden, versprochenen Straßen- und Wegeanteilen. Und dem VP nur 7km weiter. Ja, es war kein Irrtum, nicht allzu weit voraus zeigt ihn mir das Hand-GPS auch an. Wir sind jetzt auf dem Original-Track. Alles wird gut. Da kann ich trinken und vielleicht wieder etwas auffüllen. -

Er kommt nicht. Nichts. Wir sind eindeutig darüber hinaus. Das bedeutet: Jetzt gibt es bis km44 also nichts mehr. Die Rechnereien beginnen: Wieviele Stunden brauche ich dahin? Aber liegt er nicht doch sogar etwas näher, weil die Alternativstrecke ja 4km kürzer sein soll als das Original? 4km - das wäre hier heute genau eine Stunde! Bei km35 schaue ich zufällig nach exakt 7 Stunden um 15 Uhr auf die Uhr. Meine Getränke sind seit km 32 komplett leer. Zu essen hab ich noch. Aber wie soll ich das runterkriegen ohne Spülung? In zwei Stunden ist es dunkel. Ich versuche, wie es ist, Schnee zu essen. Es bildet sich nur ein Eisklumpen im Mund, der zu kalt ist, um ihn nicht wieder auszuspucken. Lassen wir das besser.

Es fällt trotzdem relativ leicht, nicht zu verzweifeln. Ich werde auch nicht wütend auf den Veranstalter, der hätte wissen müssen, dass dies hier für die große Mehrheit so nicht funktionieren kann. Das wäre alles nur völlig sinnlose Energieverschwendung. Es kann jetzt hier nur eines geben: Weiter, Schrittchen für Schrittchen, egal wie langsam, weiter. Es gibt hier keine Hilfe von außen. Wir sind in einem funknetzlosen Bereich ("danger part", insgesamt 10km mit einer Kurve durch eine schnurgerade Schneise an einer Pipeline entlang). Und bis sie käme, wäre man erfroren. Weiter. Was anderes gibt es einfach nicht. Natürlich werde ich am nächsten VP, wenn es ihn gibt, wenn dort wie erwartet mein dropbag liegt (irgendwo muss es ja gelandet sein!?), Schluß machen. Ein Liter warmer Tee in der Thermoskanne wartet. Traumhaft. Unbezahlbar. Trockene Klamotten. Es wird einen geheizten Raum geben müssen, in dem man sich bis zur Evakuierung (ja, da stand auf jeden Fall "evacuation point" an dem Wegepunkt!) aufhalten kann. Oder auch das nicht?

"Was Russen können, daran sterben die Deutschen!" werde ich von einem Einheimischen, den ich vorbei lasse, auf Englisch belehrt. Nach einer kurzen Verblüffungspause antworte ich: "Und umgekehrt!" Wir lachen. Er rechnet mit einer Ankunft im Ziel gegen 2 Uhr morgens. Haben die die cut offs etwa aufgehoben? Mir egal, ohne mich. Aber hätten wir gestern abend nicht doch besser zum briefing gehen sollen?

In der aufziehenden Dämmerung mache ich in den verschiedenen Nuancen von Grau Konturen von Hausdächern aus. Oder ist es eine Täuschung? Nein, jetzt ist es klar, ein Dorf! Der VP! Die Schinderei ist gleich beendet. Endlich. - Aber dann scheint nur eine einzige Hütte bewohnt, vor der ein völlig eingeschneiter Lada verrostet. Ansonsten kein Mensch, kein Auto, kein VP, kein Ende. Grenzenlose Enttäuschung. - Aber stimmt ja auch: die paar Schnörkel, die der Track nach den langen Geraden durch die Schneisen noch macht, bevor der VP kommt, summieren sich schon auch noch auf 2km. Immer wieder tendiert man dazu, sich die verbleibende Entfernung bis zum Ziel kurz davor schönzufärben und -reden - der DL lässt grüßen. Ich Idiot! Heulen hilft jetzt nichts. Weiter.

Da kommt mir jemand in Zivil mit einem dropbag für einen Teilnehmer in der Hand entgegen. Das bedeutet: da vorne muss der VP sein. Kann ich einen Schluck Wasser haben? Ich bekomme sogar noch eine Mandarine dazu! - Dann arbeitet sich ein Schneemobil entgegen der Laufrichtung voran. Als "Anhänger" zieht es eine Art Rettungswanne - noch leer... Auch das ein willkommenes, untrügliches Zeichen dafür, dass es vor mir so etwas wie Zivilisation geben muss. Dann entdecke ich durch die Bäume voraus zwei leuchtende Straßenlaternen. Geschafft. Es muss hier gleich zu Ende sein. Und das ist es auch! - Годеново! 5 Häuser. Ich bin so dankbar.

Einen VP gibt es nicht mehr. Die drop bags sind schon abtransportiert. Da steht ein kleiner Bus, 20 Plätze vielleicht, er ist fast voll. Meine Startnummer wird notiert. Ich steige ein. Es ist wie in einer Sauna da drin. Mir ist alles egal. Es gibt einen Kanister mit eiskaltem Wasser. Ich habe (fast) nie besseres Wasser getrunken. Es gibt eine Art Umzugskarton voll mit großen Keksen. Im Mittelgang sammeln sich die von den Schuhen und Unterschenkeln abfallenden Eisbrocken. Der Bus rumpelt los durch die schwarze Nacht. Das ist gerade nochmal alles gut gegangen. Wie es den anderen wohl ergangen ist?

Wir 7 aus dem deutschen Team, die es letztlich alle unbeschadet, aber ohne Finish überlebt haben, sind uns einig: Da muss man nicht unbedingt noch einmal hin (sportlich gesehen). Auch wenn nicht zur erwarten ist, dass der Untergrund noch einmal so bescheiden sein wird - es kann dort auch mal gut und gerne 10 oder 15 Grad kühler sein. Bei der ersten Ausgabe gab es auf dem K70 385 Finisher und 15mal DNF - dieses Jahr fehlen die Zahlen noch, dürften aber nach unserer Einschätzung fast umgekehrt liegen. Man sah nur vereinzelte Medaillenträger im Zielbereich. Von 90 gemeldeten 100Meilern haben 5 gefinisht (angeblich). Für mich bei den Bedingungen schier unbegreiflich. Aber das ist der Marathon-Weltrekord ja auch.

Ansonsten kann man den Blick hinter die Москва und über den Faltbecherrand nur empfehlen. (Ge)Weite(te) Horizonte!
Und die Züge fahren pünktlich.

Update 7. Feb:
Auf dem Zeitnehmer-Portal ist derzeit von 274 Startern (Meldeliste umfasste allerdings fast 500 Leute?) und 39 Finishern für den K70 die Rede. Scheint noch nicht die endgültige Version zu sein.


Keiner ahnt, was kommt ...

(c) D. Rusch