Montag, 14. Juli 2014

Auch wer im Kreis läuft, kann weiterkommen*



* diesen schönen Titel habe ich hier gefunden

2. Anstaltsmarathon der JVA Rosdorf 12. Juli 2014
Lange Zeit (sofern diese Wortwahl in Bezug auf die Dauer meiner vergleichsweise doch noch recht überschaubaren Marathon-Karriere, die sich momentan im 8. Jahr bewegt, überhaupt angemessen bzw. zulässig ist) war ein Mehr-Runden-Kurs beim Marathon für mich ein striktes Tabu. Und das logischerweise nicht aus bereits gemachten Negativ-Erfahrungen, sondern eben einfach aus Prinzip. Und so was ist ja immer schlecht.

Erstmals gebrochen habe ich das Tabu beim Zeiler Waldmarathon 2010, der das zweimalige Durchlaufen einer Halbmarathonschleife vorsieht. Ich habe es ohne Komplikationen überlebt, und erinnere mich noch dunkel daran, dass ich auch schon damals einen gewissen Reiz darin empfand, den Verlauf, die Eindrücke und Gefühle dieser zwei Varianten des vermeintlich Selben zu vergleichen und zu versuchen, die faktischen und gefühlten Unterschiede irgendwie zu erklären.

Gesteigert wurde dieser Wagemut dann beim Sondershausener Untertage-Marathon, der 2011 über 8 Runden führte. Ich stellte fest, dass jede einzelne Runde „ihr“ eigenes Thema und damit neben den Kilometern, die sie lieferte, auch ihre eigene Bedeutung hatte. … 1. Kennenlernen der Strecke (es gab ja z.B. mangels GPS-Einsetzbarkeit vorab kein Höhenprofil) 2. Überprüfen, ob man sich alles einigermaßen korrekt gemerkt hatte 3. Irrtümer korrigieren usw. 

Die nächste substanzielle Weiterentwicklung liegt dann in der Absolvierung eines Marathons mit einer Rundenlänge von ca. 1km, so dass ca. 40 Runden erforderlich werden. Wie geht denn so was? Gar nicht so schwer, und interessanter als vermutet! Vor allem dann, wenn das Setting „natürlich“ ist, die kurze Rundenlänge sich quasi notwendigerweise von allein ergibt – wie in einem Gefängnis, wo bereits der Umfang der Außenmauern die theoretisch maximal möglich Rundenlänge definiert (und nicht die Böswilligkeit eines Veranstalters o.Ä.). Bei Knast-Marathons in Oldenburg letzten Herbst und jetzt direkt vor der Haustür in Rosdorf bekam ich die Gelegenheit, es auszuprobieren. Dass ich nach Oldenburg überhaupt ein zweites Mal am Start stand, lag dabei nicht nur in der kurzen Anreise begründet.

Die sich ergebenden Vorteile eines Multi-Rundenlaufs liegen teilweise auf der Hand, teilweise erschließen sie sich aber auch erst durch’s tatsächliche Laufen: Es gibt jeden Kilometer einen VP, wodurch sich das Mitführen von Trinkfläschchen oder Geltüten erübrigt. Man kann ggf. jeden Kilometer das Equipment anpassen (Jacke an/aus, Schuhe wechseln, Mütze, Handschuhe). Man kann jede Runde auf’s Klo. Es gibt (ziemlich bald) keine Überraschungen mehr, was die Streckenführung angeht (Untergrund, Steigungen). Es gibt quasi unbegrenzt viele Foto-Punkte für die Fotographen. Man bleibt (fast) über die Gesamtdauer der Veranstaltung mit allen Teilnehmern zusammen: Entweder man überrundet oder man wird überrundet, auf jeden Fall sollte man am Ende wirklich alle Teilnehmer mehrfach gesehen haben. 

Aber sonst – ist das nicht dann doch irgendwann langweilig? Ich tendiere hier stark zu: ganz im Gegenteil! Es gibt ungeahnt viele Aspekte des Rundenlaufens, auf die man vorab vielleicht nicht kommt, die sich dann aber unterwegs ganz von selbst in die Wahrnehmung schieben: Ist es Zufall, dass ich in jeder Runde diesen Gullydeckel mit dem linken Fuß erwische? Die Pfütze in dieser einen Kurve, die wird ja offenbar von Runde zu Runde kleiner, oh, jetzt ist sie ganz weg! Der Trampelpfad im Gras neben der gemulchten Finn-Bahn, der war doch am Anfang noch nicht da? Kann ich es wagen, in der Linkskurve noch enger um den Pfosten des Tores herumzulaufen, ohne zu riskieren, mir meine Schulter anzuhauen? Oh, jetzt hat die Besetzung des Wachpostens am zweiten VW-Bus gewechselt! Wo befindet sich mein "Konkurrent" (lat. =‚zusammenlaufen‘) diesmal, wenn ich an dem einen bestimmten Punkt bin, von dem aus man die Hälfte der Runde überblicken kann? (Man, läuft der gleichmässig!). Du kommst eben einfach an jedem Streckenpunkt nicht wie sonst nur einmal, sondern x-Mal vorbei, kannst beim ersten Mal nach rechts (die Mauer), beim zweiten Mal nach links (die Zellenhäuser), beim dritten Mal nach oben (die Stacheldrahtrollen) schauen, und dann wieder von vorn, denn die wandernden Schatten verändern alles ständig.

Es kann tatsächlich passieren, dass man über diese epochalen Beobachtungen alles vergisst und plötzlich ist man in Runde 29 und es sind nur noch 9 to go. Das macht es wirklich einfach! Allerdings – ist der Gedanke „nur noch x Runden“ erst einmal gedacht, wird es doch noch gewohnt hart, das Marathon-Ziel zu erreichen. Es wäre ja so einfach und bequem, einfach aufzuhören, ohne aufwändigen Rücktransport bei einem DNF!

Hier hilft der besondere Hintergrund des Laufes. Es geht ja nicht primär darum, dass irgendwelche Lauf-Verrückten eine weitere Möglichkeit bekommen, einen "neuen" Marathon auf ihre Liste setzen zu können. Es geht vor allem darum, dass wenige, sozusagen handverlesene Häftlinge sich nach einer gewissen Trainingsphase einer Wettkampfsituation stellen können, bei der sie nicht wie sonst auf ihre noch kürzere Sportplatz-Trainingsrunde und mit den immer gleichen Gesichtern beschränkt bleiben, sondern in einem größeren Teilnehmerfeld durch sonst verschlossene Zwischentore unterwegs sein können und prüfen oder erfahren können, wie weit ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit schon gereift ist. Vor diesem Hintergrund ist es Ehrensache, dass ich durchhalte und durchlaufe, obwohl es vermeintlich um nichts geht. Tatsächlich geht es hier für Einige um mehr als irgendwo sonst.

Wer im Kreis läuft, kann weiterkommen. Mit Sicherheit gilt das im Sonderfall eines Knast-Marathons für alle Beteiligten, unabhängig davon, auf welcher Seite der Mauer sie gerade leben. Es hat mich gefreut, dass Einige, die ich in Oldenburg kennengelernt hatte, jetzt wieder dabei waren. Teilweise haben sie inzwischen "die Seiten" gewechselt (und das ausschließlich in der anzustrebenden Richtung).


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