Sonntag, 2. November 2014

aschu im Wunderland - NYC 2014

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"Let the wind be with you"
Die Leute, die das Schild mit diesem Text hoch hielten, standen direkt vor einer Kirche in Brooklyn. Also meinten sie es wohl auch ernst (die Brooklyner waren sowieso komplett irre, was die da schon auf den ersten Kilometern für einen Tanz aufgeführt haben). Es war aber letztlich ein Stoßgebet, das nicht allzu viel Gehör fand. Daran waren die Hochhäuser schuld (das kennen wir ja auch vom Hiroshima-Platz in Göttingen).


Hier entsteht gerade eine Aufgabe, die durchaus damit vergleichbar ist, einen ersten Marathon zu laufen: Wie soll man solch eine Reise dokumentieren und vor allem: Womit anfangen?

Im Zweifelsfall wohl mit dem Anfang!

"Weigere Dich nicht, das Beste zu erwarten."
Dies sagt mein letzter Göttinger Yogi-Tee am Freitag morgen. An mir soll's nicht liegen.

"Du hast seit einer Woche einen glasigen Blick!"
Das sind so ungefähr die letzten Worte, die mir Sanna mit auf den Weg gibt. Wie sollte das auch anders sein?


Fr 31.10.: GETTING THERE
Ich steige in den Stadtbus ein. Er braucht für die ersten 3km zum Bahnhof 15min. Ich steige in den ICE um: Er braucht für die nächsten 250km genau 1:59h, eine enorme Pace-Beschleunigung! Er ist pünktlich, hat einen Lokführer und als einziges schwaches Schmankerl eine geänderte Wagenreihung zu bieten, und - wir bewegen uns im Zeitrahmen 07-09h - eine Horde krakeelender, mit vielen bunten Getränken ausgestatteter nordhessischer Damen auf ihrem Weg zum Metropolen-Shopping. Auch am Flughafen alles ganz ruhig und normal, keine mir entgegenströmenden Massen wie im Februar auf dem Weg nach Malta, als sich die Sicherheitsleute mal kurz zu einem Streik entschlossen und eine Zwangs-Evakuierung der Gebäude auslösten. Schade, "Deutschlands schönstes McDonald's" mit bester Aussicht auf den Flugbetrieb wird noch schöner und gerade umgebaut. 10% der US-Reisenden werden einer individuellen Komplett-Kontrolle unterzogen. Wie auch 2012 ziehe ich wieder das große Los. Es muss wirklich ein toller Job sein, die dampfenden Einlegesohlen aus den völlig abgeranzten Alt-Tretern (mensch, die hatte ich ja damals auch an!) zu puhlen und in den schwitzigen Puschen nach Sprengstoff oder Dope zu wühlen. Der aschu-Teilchen-Beschleuniger fährt weiter hoch: Die nächsten 6100km in 8h20min. Sie sagen dir die Flugzeit auf die Minute genau voraus und es kommt dann auch tatsächlich so. Ich verstehe das nicht. Was noch so kam (wie ich befürchtet hatte): der einzige (meist plärrende) Säugling im Flugzeug windet sich diese 8h20min auf dem Schoß seiner erschöpften Jungmutter direkt neben mir (über den Gang hinweg) in derselben Sitzreihe. Heutzutage können die Kleinen mit 6 Monaten aber immerhin einen touch screen bedienen! Beruhigend.

Abrupt erfolgt ein schmerzhaftes Bremsmanöver. Die US-Einreiseprozedur. Diesmal nicht mehr in finsteren Katakomben wie vor 2 Jahren, sondern in einer großen neuen Halle. Nicht weniger als 59 (!) Schalter sind auszumachen. Dazu kommen unzählige SB-Terminals für Leute, die mit ihrem aktuellen Reisepass bereits in den US waren. Zu denen zähle ich leider nicht, weil ich einen neuen brauchte. Also das volle Programm mit Fingerabdrücken und Foto. Sagte ich 59 Schalter? Tatsächlich sind 3 oder 4 offen. Sagte ich JFK International Airport? Hier kommt wohl alle 5min ein internationaler Flug an und spuckt seine 200 bis 300 Einreisewilligen in die Gänge aus. Die Amis haben wirklich sehr viel Gutes und Nützliches erfunden! Dazu zählen wohl auch diese variablen Absperrbänder, mit denen man Massen in schöne, dicht gepackte Warteschlangen einsortieren kann (oh Gott, das blüht mir ja morgen beim Start-Nummern-PickUp auch wieder ...). Soweit, so gut. Was ich nicht verstehe ist, dass sie die 5 Leute, die die Ankommenden mit wertvollen Hinweisen wie "Have your passport and your ESTA ready!" versehen, nicht doch lieber hinter die Schalter setzen. Nach 1 Stunde (!) habe ich nach grober Schätzung noch nicht mal ein Drittel des Weges durch die Absperrbänder-Schlange hinter mir. Ich frage mich ernsthaft, ob da eine Art Strategie hinter steckt, den Reisenden die Bedeutung des Betretens amerikanischen Bodens wie vor 100 Jahren für immer in ihr Gedächtnis zu meißeln. Die wäre gelungen. Oder einfach Fürsorge, nach Stunden des Sitzens nun zum Ausgleich auch mal ein paar Stunden Stehen herbeizuführen. Man könnte es aber auch schlicht als Frechheit betrachten. Die meisten hier sind seit über 10 Stunden unterwegs und auf diese Prozedur wohl kaum vorbereitet (Klo? Trinken? ...). Es entsteht erstaunlich wenig Aufruhr für mein Gefühl. Nach 1,5 Stunden hab ich die Nase voll, vergesse meine guten Manieren, und wechsle in einem günstigen Moment über ein Band in den "fast access"-Bereich (nur ca. 30 Leute vor mir), in den eigentlich nur diejenigen eingefädelt werden, die noch einen Anschlussflug kriegen müssen.

Nur noch kurz zittern, ob es (wie gewohnt) ohne Koffer-Kontrolle durch den Zoll geht. U.a. ist die Einfuhr von Pflanzen und Pflanzenprodukten verboten. Aber handelt es sich um Einfuhr, wenn man etwas, was aus den USA stammt, wieder dorthin zurückbringt? Ich habe diese Frage für mich mit nein! beantwortet und kann somit in den Folgetagen und insbesondere beim Lauf auf ausreichende Vorräte von Vega Gels, Organic Food Bars und Clif-Bars zurückgreifen. Letztere hätte ich mir sparen können. Die gibt es in Manhattan wirklich an jeder Ecke.

Geschafft! Ich bin ein New Yorker! Und das Beste: New York ist nicht überschwemmt, hat Strom, und die trains (so werden die U-Bahnen hier genannt) fahren. Here we go!

Meine doch recht intensive Reise-Vorbereitung, die im Kern natürlich schon 2012 erfolgte und jetzt nur aufgefrischt werden musste, zahlt sich jetzt aus (und ist unabdingbar, wenn man allein und ohne smartphone unterwegs ist): Ich weiß, nach welchen Schildern ich Ausschau halten und wo ich hin muss: 1. AirTrain nach "Jamaica Center" 2. Von dort 'E'-Train nach Manhattan 3. An der Station 53th St/Lexington Ave umsteigen in die '6' 'downtown' (also nach Süden). 4. Mit der 6 bis zur 33rd oder 28th, das Hotel heißt "Hotel31" und liegt logischerweise genau in der Mitte.

Der (führerlose) AirTrain klappert die Terminals von JFK ab und verlässt ab und zu seine loop, um die Anbindung an das Subway-Netz herzustellen. Klare Stations-Ansagen (natürlich nur in Englisch). Das erste Aufmerken: Eine junge Frau steigt ein, hält laut und deutlich eine Ansprache zu ihrer Lebenssituation (Studentin, kein Geld) und hofft auf Spenden. Kein großer Erfolg. Ich hab noch kein Kleingeld. Aber bald Gänsehaut, was der etwas übertrieben rauschenden Klimaanlage geschuldet ist. An der Jamaica Station beginnt das eigentliche NYC-Subway-System und man braucht eine MetroCard, mit der man durch die hermetischen Zugangsschleusen in den Bahnhöfen kommt und auf die man beliebige Beträge immer wieder aufladen kann. Oder man kauft passenderweise gleich die Version "7days - unlimited rides", die sich ab der 13. Fahrt rentiert, und muss nur einmal an den Automaten durch die Menus klicken. Geschafft. Ich hab sie!

Tatsächlich, es funktioniert diesmal alles reibungslos. Die irren Monster in den Zügen sind alle ganz zahm - it's just Halloween! Da machen die hier richtig was draus! Fast die Hälfte aller Leute ist wüst verkleidet! (Es gibt ganze Läden für den Kram). Und dann der (immer wieder, bin ich versucht zu sagen) umwerfende Moment, wo ich aus dem Untergrund, in den ich mich am Jamaica Center begeben hatte, wieder emporsteige in die reale (?) Welt, die inzwischen eigentlich in die Dunkelheit der frühen Nacht gehüllt sein müsste, hier aber dennoch taghell erstrahlt. There is only one direction to look: Up! Das ist ein Werbespruch für Zion N.P., den ich nie vergessen habe, weil er halt zutrifft, und sich auf die irrwitzig engen und hohen Canyons dort bezieht. Dort sind sie natürlich, hier in Manhattan künstlich, aber nicht minder beeindruckend. Untermalt wird die surreale Szenerie durch unglaublichen Lärm, 80% gelbe Autos, und ein beängstigendes Gewusel auf den Bürgersteigen. Doch dazu später mehr.

"Schon" 3.5 Stunden nach dem touch down stehe ich glücklich an der Hotel-Reception, bin also wieder hinlänglich entschleunigt (25km). "Staying 5 nights?" - "Yes." Hoch in die 303 (oh, das harmoniert irgendwie mit der Startnummer, denke ich). Klein, aber ordentlich und sauber, und diesmal wie bestellt tatsächlich ohne eigenes Bad (aber mit Waschbecken; das Bad liegt direkt nebenan - Vor- und Nachteil zugleich ... aber ich habe ja Ohropax mit). WiFi-Code liegt auf dem Nachttisch. "Verbindungsqualität ausgezeichnet". Die Aussicht aus dem Fenster werde ich morgen checken (irgendwie ist da alles so dunkel?). 14 Stunden von Tür zu Tür, das ist doch akzeptabel. Sleep well!

Mein vorab gefasster Taktik-Plan ist, die Zeitverschiebung - wenn überhaupt - erst nach dem Lauf umzusetzen. Kurioserweise habe ich hier sogar 2 Zeitverschiebungen zu absolvieren, weil die Amis erst am 2.11. (Renntag! - eine Woche nach Europa) auf Winterzeit zurückstellen. Also sind es erst 5, dann 6 Stunden Differenz zu Winter-Deutschland. Erfahrungsgemäß brauche ich sowieso immer Tage, bevor ich nicht mehr morgens um 2h aufwache. Somit startet für mich der Lauf nach innerer Uhr nicht um 9.40h, sondern um 15.40h. Das war ja auch einer der Gründe, dass ich diesmal so knapp wie möglich anreiste (Samstag, also morgen, ist letzter Startnummerabholtag). Der andere ist, einen möglichst langen Urlaubs-Block nach dem Lauf zu generieren, während dessen man nicht mehr rumhibbelt.


Sa 01.11.: PICK UP THE BIB
Wie nicht anders zu erwarten, bin ich um 3h morgens zu allen Untaten bereit und begebe mich zu einem Umgebungs-Check hinaus auf die Straßen. Die Party-Vögel sind noch zahlreich unterwegs, aber alle ganz friedlich. Insgesamt erlebe ich in Manhattan genau wie 2012 irgendwie ein Gefühl größerer Sicherheit als teilweise in Göttingen. Objektiv mag das falsch sein (die Waffen- und Drogendichte ist hier natürlich höher), aber die vorhersehbaren Anmachen von Kleingruppen, die einem entgegenkommen, und die in der Heimat wirklich vorhersagbar sind, entfallen hier gänzlich (obwohl hier "Migrations-Hintergrund" quasi als gesetzt gelten kann). Ecke 28th und Park Ave bekomme ich einen erträglichen Kaffee und ein Veggie-Sandwich, das auf die menschliche Anatomie, sprich maximale Mundöffnungsweite, wenig Rücksicht nimmt. Tasty! Ach ja, der Müll, dazu später mehr. Gestärkt und beschwingt umkurve ich noch einige Blocks, bis der vorhergesagte Regen einsetzt und mich ins Hotel zurücktreibt. Ich habe gute Chancen, bei der diesjährigen BC-Bewerbung der am weitesten entfernte Anmelder zu sein. Die will ich nutzen!

Heute gibt es im Wesentlichen 2 Programmpunkte: 1. Startunterlagen abholen. 2. Möglichst wenig die Füße in den Bauch stehen. - Erfahrungsgemäß (diesen Abschnitt hatte ich 2012 ja immerhin noch ganz normal absolviert) lässt sich das schwer vereinbaren, da die Warteschlangen wegen der Sicherheitskontrollen auf der Expo schon sehr rekordverdächtig waren. Angesichts des inzwischen strömenden Regens (mir doch egal, solange morgen die Sonne wirklich scheint!) nehme ich den M34-CrossTownBus. In Midtown Manhattan fahren ausnahmslos alle Subways in Nord-Süd-Richtung. Will man mal quer rüber (und nicht laufen), muss man einen Bus nehmen. Die Nummer ergibt sich sinnvollerweise einfach aus der Straße, auf der er zwischen Hudson River im Westen und East River (nomen est omen) im Osten pendelt. Wieder bin ich beeindruckt von der "Qualität" der Straßen mit den ständig donnernden Stahlplatten, mit denen die ganz großen Schlaglöcher abgedeckt sind. Die Reisegeschwindigkeit beträgt ca. 8 bis 10km/h, schätze ich. Aber so bleibe ich immerhin trocken.

Am Javits Center trudeln jetzt gegen 8:30h die ersten Volunteers und natürlich auch die ersten Läufer ein. "Are you guys jet-lagged?" werden wir launig gefragt, also wir uns eine halbe Stunde vor Öffnung der Bereiche in die noch sehr überschaubare line einreihen. Aber besser hier jetzt ein paar Minuten in der pole position verbringen, als sich später wieder stundenlang in einem Absperrbandlindwurm winden. Das Setup ist gewaltig: hohe Hallen, riesige Transparente mit dem diesjährigen Haupt-Slogan Get your New York on. "New York" kann dabei wahlweise durch alles Mögliche ersetzt sein. Aber wie übersetzt man das eigentlich? Das habe ich inzwischen auch native speakers gefragt. Antwort: Nicht wirklich übersetzbar. Auf jeden Fall NY-typischer (black) slang, der im Moment wohl ziemlich hype ist. Es ist für mich mehr ein Gefühl, als ein Inhalt, das tatsächlich damit verbreitet wird.

Besonders bei Nordwind kein leichter Kurs
Während wir hier so warten, können wir ja mal einen Blick auf die Möglichkeiten werfen, wie man überhaupt an einen Startplatz für New York kommen kann. Es gibt jedes Jahr ca. 150.000 Interessenten. Also mindestens 2 Bewerber pro Platz. Für Ausländer gilt:
1. Sicherer Startplatz über einen zertifizierten Travel Partner des Heimatlandes. Das sind dann Gesamtpakete aus Flug, Hotel und Startplatz und kosten bei 4 Nächten Aufenthalt je nach Hotel zwischen 2.000 und 4.000 Euro.
2. Charity. Sammeln enormer Spendensummen (mehrere Tausend Dollar, hab ich mich nie näher mit beschäftigt).
3. Lostrommel (keine Angaben zu Wahrscheinlichkeiten verfügbar).
4. Qualifikationszeit. Dies war mein Zugangsweg. 2012 war es noch wirklich eine Quali-Zeit, will heißen: du hattest den Startplatz, wenn Du die (nicht unanspruchsvolle) altersmäßig gestaffelte Zeit gelaufen warst, für M50 z.B. 3:06h.
Ab 2013 war das leider etwas anders, da bedeutete die absolvierte Quali-Zeit nur den Eingang in einen kleineren Sonder-Lostopf. 2013 hatte ich Pech, 2014 dann Glück! (ab 2015 wird es wieder "echte" Qualis geben, sogar mit leicht gelockerten Zeiten!). Die Startgebühr als solche ist seit 2012 für Nicht-Amerikaner unverändert $347 (ca. €270).

Ok, 8:58h, Unruhe setzt ein, das Tor bewegt sich und eröffnet den Blick in den riesigen Bereich, in dem man nach 1000er-Schritten gegliedert seine Startnummer abholen kann. Aber wo ist der Sicherheits-Check? Das war hier 2012 wilder als auf einem Flughafen! - Nichts! Du gehst einfach rein wie beim Arolsener Advents-Marathon, zeigst deine ausgedruckte Registrierung, kriegst deinen Umschlag mit der Startnummer - UND FERTIG!! Unglaublich. Mir soll's recht sein.

Verlassen kann man den Bereich nur, indem man die Verkaufszone von Asics durchquert. Die ist locker so groß wie die Grundfläche von Karstadt in Göttingen. Ich möchte denjenigen sehen, der hier keinen Dollar lässt! Ich schaffe es auch nicht, zumindest ein Paar neue "5 boroughs"-Handschuhe, bei denen auf jedem Finger ein Stadtteilname aufgedruckt ist, müssen sein. Ach, aber dieses knallrote "run NYC"-Shirt dort ist ja auch scharf, und das blaue singlet da, und und und. Marketing at its best. Was soll's, ich bin vielleicht das letzte Mal hier.

Die Expo passt zum Lauf und zur Stadt: Sie ist GROSS! Ich versuche, alle Gänge mindestens einmal abzugehen und sacke diverse GiveAways ein. Ein eigener Stand nur für den VitaMix!! Die Dinger gehen weg wie warme Semmeln, es ist unfassbar. Bei PowerBar kann man nicht nur futtern, sondern das Gefühl der "wall" schon mal vorweg erfahren, in dem man sich auf einen stilisierten 26.2 miles-Kurs begibt, der ab mile 23 mit gepolsterten Drehkreuzen aufwartet, gegen deren Widerstände man mit den Beinen anarbeiten muss.

Ok, ich hab genug (gesehen und Geld ausgegeben). Zurück zum Hotel. Dauerregen. Neben meinem Frühstücks-Cafe entdecke ich "Fresh&Co". Veganes Chili, sounds good. And: It is good, that's for sure!

Wie der Rest des Tages aussieht, kann sich jeder, der schon mal einen "großen" Marathon gelaufen ist, sicher vorstellen: Häufchen aufschichten auf dem Bett, hin und her packen. Noch ein bisschen Blödsinn posten. Am Ende noch die Renn-Rasur mit Emil's Original Reise-Pinsel. Aber was ist das? Was ziehen sich da für Fäden, warum brennt das so, löst sich meine Haut auf? - Keine Ahnung, muss wohl an der chlorhaltigen Brühe liegen, die hier aus dem Wasserhahn kommt.

Dann doch noch eine Schrecksekunde am Abend: Email von der Orga (oh nein, nicht schon wieder!!) Sinngemäß: "High Winds and cold tomorrow! Zieht Euch entsprechend an!" Für die Rollstuhlfahrer und Handbiker (da sind durchaus veritable Profis am Start, die die 42km in etwas über einer Stunde abspulen!) wird der Start auf die Festland-Seite (ich zähle Long Island jetzt mal zum Festland, ansonsten ist ja ganz New York ein Haufen Inseln!?) der Verrazano-Narrows-Bridge in Brooklyn verlegt und damit die Strecke um 3 Meilen verkürzt. Sie sollen wohl nicht von der Brücke geweht werden. Das kann für uns Läufer ja ein "heißer" Tanz werden ...


So 02.11.: RUN ! ("hell and back")
Ich bin um 3:20h wach. Ist das jetzt "alte" oder "neue" Zeit? Mist, natürlich alte. Damit setze ich meinen Plan, nach "europäischer Uhr" zu laufen, also wirklich in die Tat um. Gut, erst 2:20h - und damit noch gut 3 Stunden, bis es sinnvoll wird, sich auf den Weg zum R-Train an der 28th/Broadway zu machen. Selbst in New York fahren nicht alle Linien 24/7, und auch nicht wie zur rush hour alle 3 bis 5 min. Die erste Subway zum Staten Island Ferry Terminal geht nach meinen Recherchen um 5:47h. Echte Fahrpläne findet man übrigens nur im Internet, nicht an den Stationen.

Zeit genug also, um alles, alles noch einmal ganz in Ruhe durchzugehen (und sich zum 20. Mal in den Hintern zu beißen, dass man den kleinen Wasserkocher nicht mitgenommen hat und deshalb jetzt ohne Tee und Yogi-Spruch da steht - aber wer weiß, was der Kocher zu den 110V gesagt hätte ...).
Ich muss für 4 Zeit-Phasen richtig ausgestattet sein:
a. vom Hotel bis zur Abgabe des Ziel-Gepäckbeutels (spätestens 8:10h)
b. von der Abgabe des Zielbeutels bis zum Start 9:40h
c. während des Rennens (bis ca. 13h ?)
d. nach dem Empfang des Zielbeutels bis zum Hotel (ca. 6-8km, mindestens 1mal umsteigen)

Das Ganze für folgende Wetterprognose:
100% trocken, zunehmend sonnig, gefühlte Temperaturen allerdings bescheidene -5° bis +2°C (real: +3° - +8°C) bei Windmittel 40km/h, Böen 70km/h aus NW. Das ist ziemlich genau die Haupt-Laufrichtung ...
Bei einem Körperfettanteil von <10% und auch sonst vorherrschendem Vegetarier-Bibbern heißt die Devise für mich damit eindeutig: Lieber eine Lage mehr! Und ich habe meine Hausaufgaben gemacht, weiß, dass im "Start Village" alles im Freien stattfindet, meist auf einer nassen Wiese, dass also ein Stück alte Isomatte und Plastiktüten (natürlich durchsichtig, wegen der security) zum Schutz gegen vorzeitiges Durchweichen der Schuhe bzw. des Hinterns angezeigt sind. Ich habe sogar Kreppband mit, um die Plastiktüten an den Hosenbeinen fest zu machen. Und natürlich Folien, Folien, Folien. Handschuhe. Mützen. Stirnbänder. Buffs.

Wenigstens kann ich so völlig ungehetzt frühstücken, verdauen, und sogar noch ein bisschen rumchaten.

Kurz nach 5h mach ich mich los. Mir steht eine recht abwechslungsreiche Reise bevor: Mit der Metro bis an die Südspitze Manhattans, von dort mit der Fähre rüber nach Staten Island, und dort dann noch ein bisschen Bus fahren zum Startgelände. Ein Coffee auf dem Weg zur subway muss sein (und erbringt wie erwartet Treffen mit den ersten Mitstreitern, unzweifelhaft erkennbar an den baggage bags). Nach 20min UBahn-Gerumpel hinunter nach Downtown betreten wir die bereits zum Bersten gefüllte Wartehalle am Fähranleger. Ich habe Zuordnung auf die Abfahrt um 6:30h. Letztlich ist das völlig egal, alle 15min fährt ein Schiff. Hunderte Leute passen drauf. Keine Kontrollen. Die Fähren sind reine Personenfähren und auf maximalen Durchsatz pro Zeit optimiert. Also Zugänge auf mehreren Ebenen, mehrfach nebeneinander über breite, stufenlose Rampen. Somit ist die Wartehalle jeweils innerhalb von 3min wieder leer und zur Aufnahme der nächsten Fuhre bereit. Die Schiffe sind gut getrimmt: Auch wenn 80% der Passagiere auf der Steuerbord-Seite hängen, um Lady Liberty in der Vorbeifahrt zu bestaunen, ist keine Schlagseite feststellbar. Ich hebe mir das Sightseeing für morgen auf. Die Fähre ist ja immer umsonst, und jetzt sollte ich besser konzentriert bleiben. Man vergisst schon schnell ob der ganzen Show und der langen Vorwehen, dass es hier am Ende immer noch darum geht, *Marathon* zu laufen. Auch bei meinem 48. bzw. 96. incl. Ultras versuche ich, diesen Gedanken wenigstens einmal vor dem Start in den Arbeitsspeicher zu laden. Respekt vor der Distanz kann nicht nur nicht schaden, sondern ist immer wieder erforderlich.

Auf Staten Island werden wir wieder in dicken Strömen ausgespuckt und der Lindwurm schlängelt sich durch die Hallen hinaus zum Bus-Terminal. Es ist so goldig: Marathon-Volunteers und sonstige uniformierte Officials mit großen ID-Umhängern stehen an jeder Ecke und bestätigen das Unhinterfragte: "To your right! - To your right!" (an einer Stelle, an der man schon rein baulich keine andere Richtung hätte einschlagen können, vom Lemming-Effekt mal ganz abgesehen). Jetzt sind es noch ca. 3 Meilen bis zum Start-Gelände am Südwest-Ende der Verrazano-Narrows-Bridge, die Staten Island mit Brooklyn verbindet und über die die ersten 3 Strecken-km führen werden. Die Bus-Verladung ist wirklich genial organisiert: Jeweils ca. 15 Busse fahren gleichzeitig hintereinander vor, werden gleichzeitig befüllt, und fahren gleichzeitig als Kurz-Konvoi ab. Hunderte Volunteers, Hunderte Busse! Keine Übertreibung, garantiert nicht. ES IST SO GROSS!

Natürlich gibt es auf der ganzen Zufahrt keinerlei Individualverkehr, alles ist für die endlosen Bus-Kolonnen auf Go geschaltet, jede Kreuzung gesperrt. Zum ersten Mal seit Langem schaue ich auf die Uhr: 8:04h. Uuuhh!! Bis 8:10h soll ich mein Gepäck abgegeben haben. Wir stehen im Stau vor dem Startgelände auf Fort Wadsworth (bis 1994 eine strategische Militär-Einrichtung, heute immer noch US-Bundesgelände), wo sich die Auslade-Prozedur sinngemäß identisch zum Einsteigen wiederholt, es fahren immer ca. ein Dutzend Busse gleichzeitig vor. Endlich! Sicherheits-Check. Sprengstoff-Hunde. Rauschgift-Hunde. Dicke MP's. Dunkle Brillen. Kaugummi.

Mist, jetzt auch noch Druck auf der Blase! "Urinieren außerhalb der Dixies führt zur Disqualifikation". Ich traue den Amis alles zu, und sehe auch niemanden an den Hecken. 8:08h. Ok, Kompliment, auch das kriegen sie hin: Hier gibt es nicht eine Schlange pro Dixie (1.700 Stück), sondern eine pro ca. 5 bis 6 Kabinen. Das ist psychologisch sehr hilfreich, denn es geht schneller und man wird kaum die normalerweise unvermeidliche Wahrnehmung haben, dass man in der langsamsten Reihe ansteht.

Fertig. Auf geht's zum Grünen Village. Es gibt 3 farblich unterschiedene Villages (gleichzeitige Startgruppen bzw. Startkanäle, die tatsächlich auf den ersten 5km isolierte, von einander abweichende Routen über verschiedene Rampen und Stockwerke der Verrazano-Bridge verfolgen), aus denen jeweils zeitlich nacheinander, also mit eigenen Startschüssen, jeweils 4 Wellen starten. In jedem Village gibt es in jeder Welle 8 Corrals ("Pferche" - nomen est omen), die jeweils 800 bis 1000 Starter umfassen. Alle Zuordnungen kann man direkt der Startnummer entnehmen. Die Zuordnungen (deren Regeln nicht veröffentlicht werden) erfolgen auf Basis einer eigenen Zielzeit-Vorhersage, die man im Rahmen der Anmeldung (also ca. 9 Monate vorher) macht. Ich hatte mit "3:14" ins Horn geblasen, um schon möglichst weit vorne zu stehen. Wer das jetzt alles verstanden und richtig gerechnet hat, kommt auf 3 * 4 * 8 * 1000 = 72.000 (theoretische) Startplätze. IT'S REALLY BIG!

Aber wo ist es, das Grüne Village? Tatsächlich liegt in der Beschilderung am Start der einzige Kritik-Ansatz im Rahmen der gesamten Veranstaltung. Sie ist etwas dürftig, vor allem viel zu klein. Aber es gibt ja Volunteers! Dutzende, Hunderte! Nur wenige widersprechen sich (ich frage immer mindestens 2, bevor ich weiterwandere). Irgendwann stehe ich vor dem UPS-Truck mit dem Nummernbereich, in den auch meine 3302 fällt, dazu noch in der richtigen Farbe - grün (natürlich sind die Nummern als solche über alle Sortierkriterien hinweg eineindeutig)! Es ist 8:13h. Also ziemlich knapp das Ganze, obwohl ich alles genau nach den Vorgaben abgespult habe. Ich weiß allerdings nicht, ob und ab wann sich ein weiterer zeitlicher Verzug faktisch ausgewirkt hätte.

Ok, erwähnte ich, dass wir die geschützte Stadt verlassen und quasi den Bereich des offenen Ozeans erreicht hatten? Auch wenn der Wind vom Festland weht: der New Yorker Hafen reicht aus, um ihn bis hierher zu einem mittleren Sturm aufzupeppen (wenn man jetzt mal nicht die Maßstäbe der Brocken Challenge anlegt). Das heißt: Jacke ausziehen und wie geplant in Beutel stecken geht ja noch, Folien-Poncho alleine überziehen ist aber absolut unmöglich. Aber es gibt ja Volunteers. Meine Fresse ist das kalt!

Nochmal volle Konzentration. Ich muss jetzt (noch) alles dabei haben, was ich für den Lauf brauche. Alles was ich nicht (mehr während des Laufs) brauche, muss ich vor dem Start im Rahmen der weltgrößten Kleidersammlung wegwerfen. Wenn ich jetzt etwas vermisse, was im baggage bag ist, sehe ich alt aus. Sieht aber gut aus. Natürlich ist die letztendliche Entscheidung für die Rennkleidung in gewissem Rahmen ein Poker: Lange Jacke oder nur Weste? Long sleeve oder Ärmlinge? Usw., zumal ja der gesamte Oktober von durchgehend zweistelligen Trainingstemperaturen geprägt war und man damit aus einer etwas anderen Wetter-Welt kam. Aber ein bisschen gelaufen bin ich ja schon im Leben, zwischen -18° und +32°, bei Windstille und Schneesturm. Was ich letztlich unverändert über die gesamte Strecke anhatte (und womit ich bestens klar kam), sieht man auf Fotos weiter unten. Nur die dünnen "5-Borrows-Handschuhe" von 2012 (siehe links) wurden hoffentlich zur Freude einiger Kinder bei km 15 in Brooklyn "entsorgt" (aber - wie erwähnt - ich habe natürlich frischen 2014er Ersatz ...).

Nach einigem Hin und Her stehe ich tatsächlich vor dem Eingang zu Corral A der 1. Grünen Welle. Hier wird die Uhrzeit, wie ich dann später mitbekomme, wirklich entscheidend. Wer hier nicht im angegebenen Zeitfenster (und mit bereits abgegebenem Baggage Bag) erscheint, muss in der nächsten Welle, also ca. 30 bis 45min später starten. Für mich gilt 8:20 bis 8:55h. Hinein da. Noch eine gute Stunde bis zum Start. Und ich frier schon jetzt wie Schneider. Das Corral besteht im Wesentlichen aus Dixies und Warteschlangen vor den Dixies. Ich versuche noch, irgendwo einen Liege- oder wenigstens Sitzplatz zu bekommen, aber aussichtslos. Also stelle ich mich einfach in eine Klo-Line an, man weiß ja nie. Es gibt freaks, die stehen hier in Renn-Shorts und Singlets ohne jeden weiteren Schutz rum. Die meisten aber versuchen - wie ich, und meist vergeblich - die Folien (die hier nicht vom Veranstalter gestellt werden!), irgendwie einigermaßen winddicht um den Körper zu bringen. Einlaufen völlig unmöglich. Ich schaue auf meine nackten Knie. Komische Farbe ...

Man weiß, wie das ist: Irgendwann hat alles Warten ein Ende. Eine Absperrung geht auf und der Inhalt des Corrals (um nicht zu sagen: eine Herde Rindviecher) setzt sich in Bewegung Richtung Startlinie. Stampede! Whoohoo!!-Schreie. Ich falle fast hin, so steif gefroren bin ich. Ach du Scheiße, wie soll das werden. Wir stolpern über eine flächendeckende Schicht aus weggeschmissenen Klamotten, auf der immerhin erste Versuche von Laufschrittchen möglich werden. Es kommen letztlich 26 Tonnen entsorgte Bekleidung zusammen, was genau einem Pfund pro Läufer entspricht! Über uns knattern ein halbes Dutzend Hubschrauber. Ansagen. Musik. Und vor allem: Sturm. Endlich, da ist sie: die lange Gerade auf und über die Brücke mit (unsichtbaren) 50 Höhenmetern, von denen ich mir als "Grüner" im Untergeschoss allerdings einige sparen kann. Übrigens: noch 20min bis zum Startschuss.

die 3 Start-Kanäle der 1. Welle sind ready for take-off
Unvermittelt intoniert die National Anthem, a capella solo live gesungen von einem für mich nicht auszumachenden männlichen Wesen, dessen Stimme den ganzen anspruchsvollen Umfang der Melodie ohne jegliches Gezitter bewältigt. Sagenhaft. Man mag davon halten, was man will: Ich finde, hier ist es dem Anlass schon angemessen und ich bin bestimmt nicht der einzige, der jetzt schon heult, und das hat fast nichts mit dem Wind zu tun.

Der Startschuss ist dann kein Schuss, sondern ein veritabler Kanonenschlag. Ich bin bei Bewusstsein (der Kopf ist aktuell noch mit einem zusätzlichen Stirnband vor dem Einfrieren geschützt) und lasse mir jedes einzelne Wort meines Gedankens auf der Zunge zergehen:
"Ich - laufe - jetzt - New York!"

Auf diesen Moment habe ich letztlich fast 3 Jahre gewartet und hingefiebert.

Was jetzt folgt - die Überquerung der 3km langen Verrazano-Narrows-Bridge - , ist zunächst ohne große Übertreibung ein ziemlicher Höllenritt - schöne Grüße an den Brocken-Gipfel! Dort hat man allerdings i.d.R. lange Hosen und eine Jacke mit Kapuze an, und ist irgendwie auf Winter eingestellt. Ich trete der Show hier nur deswegen einigermaßen entspannt entgegen, weil ich weiß, dass sie nach ca. 15min zumindest in dieser krassen Ausprägung wieder vorbei sein wird. Der eisige Sturm bläst exakt von der Seite durch das Stahlskelett der Brücke. Eine unglaubliche Geräuschkulisse aus Heulen, Pfeifen, Surren, verfeinert durch das Knattern der Startnummern im Wind. OMG, was, wenn die jetzt wegfliegt? Da ist der Chip dran! Ich laufe die ganze Brücke wechselweise mit einer Hand auf der Startnummer vor dem Bauch, bloß kein Risiko. Die Dinger scheinen aber gute Qualität zu haben, ich sehe keine einzige wegfliegen, was angesichts der Masse fast unglaublich scheint.

Um die Brücken-Querung auf der unteren, "grünen" Ebene ("blau" und "orange" laufen oben), ranken sich wilde Geschichten über die "Durchnässung in Fremd-Urin", der von oben hereingeweht werden soll. Kann schon sein, aber nicht heute: Wir laufen auf den linken, windzugewandten Spuren. Diejenigen, die dort oben versuchen sollten, gegen den Sturm zu pinkeln, werden heute genau einen durchnässen: sich selbst! Keine Gefahr also und auch keinerlei Anzeichen entsprechender Versuche.

Blick auf den Garmin: Pace 8:34?? Das kann nicht sein, immerhin läuft zufällig der Ziel-3:10h-Pacer neben mir, der es aufgegeben hat, sein Schild gegen den Sturm hochhalten zu wollen. Muss an der Brücke liegen, ist ja fast ein Faraday'scher Käfig oder so. Soll heute auch egal sein, der Pace und die Zielzeit. Schön laufen und gucken ist die Devise. Endlos lange dauert es, bis ich mir sicher bin, dass es nicht mehr bergauf geht und wir den Scheitel der Brücke hinter uns haben. Der 3:15er-Pacer überholt mich, was ist das? Wo ist der 3:10er? Egal, endlich ist die Brücke zu Ende und wir befinden uns bald in einem unübersichtlichen Gewirr von Auffahrtsrampen, auf denen nun zum ersten Mal auch die Läufer aus dem Oberdeck wieder sichtbar werden.

Es dauert bis kurz hinter Strecken-km 5, bis alle 3 Läuferströme auf derselben Route vereinigt sind. Alle 5 km gibt es Zeitmessmatten und Race Clocks, so dass ich wenigstens ungefähr ahnen kann, wie ich liege, auch wenn der Garmin corrupted ist. Knapp 23 Minuten für die ersten 5km. Ok. Den Umständen angemessen. Ob das zu Hause jetzt wirklich auch jemand sieht? Ich hatte ja einen tracker auf meiner facebook-Seite aktiviert, der angeblich alle 5k-Durchgangszeiten zur Echtzeit +10sec. anzeigen sollte (und - oh Wunder - das tat er auch!).

Jetzt kann es losgehen: Acht fast schnurgerade Kilometer auf der 4th Avenue nordwärts durch Brooklyn, "optimal" genau gegen die (Haupt-)Windrichtung ausgerichtet, liegen vor mir. Es ist eine sechsspurige Straße, die wir Läufer in voller Breite für uns haben. Die Szenerie ist nicht zu vergleichen mit Manhattan, es stehen hier in der Regel nicht besonders hübsche, nur zwei- bis viergeschossige Zweckbauten, meist gewerblich genutzt, und immer wieder Tankstellen dazwischen (die man in Manhattan nur ganz selten sieht). Schön ist anders, aber die Stimmung an den Straßenrändern lässt wirklich nichts zu wünschen übrig. Und es ist ja immer noch "New York", das verwaltungstechnisch neben Manhattan noch aus Staten Island, Brooklyn, Queens und der Bronx besteht. Durch alle diese Stadtteile, die 5 boroughs, führt der NYC Marathon, dieses Jahr zum 44. Mal. Es ist der älteste Stadt-Marathon der Welt.

Mit einem brutalen, lückenlosen countdown der Querstraßen von der 75th runter zur 1st St versuche ich, diese endlose Gerade zu gliedern. Wenn es denn hilft. Aber es wird nicht wirklich langweilig: Der Wind ist sehr böig und die zahlreichen Flaggen und Fahnen allerorten zeigen, wie wechselhaft auch die Windrichtung ist. Ständig bin ich auf der Suche nach breiten Schultern, hinter denen ich mich verstecken kann. Kraft sparen, Kraft sparen, Kraft sparen, sage ich mir. Aber was helfen breite Schultern, wenn ich schmales Hemd sie dann doch um einen halben Meter überrage? Mag manchmal ein merkwürdiges Bild gewesen sein ... Ab und zu wird man von Böen regelrecht aus der Spur gedrückt, was ich sonst nur vom Radfahren kenne. Ich hole den 3:15er-Pacer ein. Rudelbildung um ihn herum. Entscheidung steht an: Mutig vorbei oder die Gefahr riskieren, dass einem im Pulk einer in die Hacken tritt? Vorbei, ich bin halt schneller. Ist doch letztes Mal, wo ich mich das getraut habe, auch gut gegangen (Bienwald 2013, 3:11:43, einer meiner schönsten Marathon-Erinnerungen, weil 2. Hälfte nur 1min langsamer als die erste).


Nach 44:30min bin ich bei 10k, nach 1:06:20h bei 15k. Dazwischen liegen die fünf irrsten Lauf-km, was das Publikum angeht, die ich bisher erlebt habe. Auf der Lafayette Avenue, wo man für 2km nach Nordosten läuft und daher nur Seitenwind hat und sich mal etwas ausruhen kann, ist der Bär los. Es herrscht ohrenbetäubender Lärm allein aufgrund des puren Geschreis der Leute. Bands und Ansagen kommen hinzu. Hunderte Schilder mit kreativen Sprüchen gibt es zu lesen. Ich will sie mir alle merken, aber am Ende ist wie üblich fast alles wieder vergessen. Hätte ich doch eine Handy-Kamera dabeihaben sollen? Nein. Rennen ist Rennen. Immer ohne Fotos. Aber es ist wie gesagt umwerfend. Ich habe die "Warnung" von alten NY-Hasen zwar im Kopf, sich hier nicht mitreißen zu lassen und mit dem endlosen Abklatschen der Kinder-Hände zu beginnen und dabei letztlich Kraft zu "verschwenden". Aber wer weiß, ob das so richtig ist und nicht das Gegenteil wahr? Meine Hände werden heiß und ich werfe die Handschuhe mutig (werde ich es später bereuen?) in die johlende Menge. Wie in Berlin im Bereich Wilder Eber, wo der dortige Zuschauer-hotspot ist, beschleunigt mich diese einzigartige Show z.T. bis auf pace 4:10 über einen gesamten Kilometer, natürlich unbemerkt. Subjektiv bin ich im Grünen Bereich (was objektiv nicht sein kann, vgl. u.).

km 18 - Queens
Williamsburg kurz vor km20 steht dem nicht viel nach, die Straßenränder sind voll und es ist fast schon störend laut. Mitten auf der Rampe hinauf zur Pulaski Bridge ist der Halbmarathon-Punkt bei besorgniserregenden 1:33:30 erreicht. Bei diesen Bedingungen (wir sind bisher fast ausschließlich nach Norden gelaufen, Rückenwind gab es nie) im Bereich der Bestzeit zu laufen, muss eigentlich Harakiri sein. Oder es ist einfach "mein Tag". Den hatte ich dieses Jahr aber eigentlich schon, in Malta (3:06 ohne ein einziges Tempo-Training, 2 Wochen nach der BC).
Richtig, schon wenig später auf der on-ramp "hoch" auf die Queensborough Bridge, die uns bei km25 rüber nach Manhattan führt, wird mir von meinem System unmissverständlich klar gemacht, dass ich "etwas" überzockt habe. Egal. Ging nicht anders. Nicht mein Fehler.

Gegensturm. Fast wie auf der ersten Brücke. Man kriegt manchmal kaum Luft, weil in den Verwirbelungen wohl so etwas wie Mini-Vakuums entstehen. Dieser Abschnitt war eigentlich derjenige, auf den ich mich am meisten gefreut hatte. Über diese Brücke waren wir 2012 mit dem Taxi reingekommen und ich hatte hier zum ersten Mal die nächtliche Skyline von Manhattan ungläubig bestaunt. Wir laufen aber (diesmal alle) wieder nur in der unteren Etage der Brücke, und damit ist ein Großteil der Aussicht verbaut. Der Garmin kriegt einen erneuten Todesstoß, für den Rest des Laufes hinkt er von der Distanz her der Realität fast 2km hinterher. Mist! Rasant runter in einem U-Turn und nochmal links rum und dann wieder mal mehr als 5km Vollgerade voraus: die 1st Avenue. Ich liebe das. Nothing but running.

Wie schon die gesamte Strecke bis hierher sind diese langen Geraden nie wirklich eben, sondern immer ganz leicht gewellt, was ich unter dem Strich als Vorteil sehe: "Bergauf" zwar etwas fordernder, dafür entstehen immer mal wieder auch Phasen des "Fast-von-alleine-Laufens". Noch nicht erwähnt hatte ich die Tatsache, dass es jede Meile (!) eine Versorgung gibt. Leider an Getränken ausschließlich Wasser und Iso (Gatorade), auch gegen Ende keine Cola. Die fehlt mir.

In diesem Kontext noch eine Zahl, die für sich steht, wie so viele Zahlen beim NYC Marathon: Es werden angeblich 2.300.000 Pappbecher von insgesamt über 10.000 Volunteers (die übrigens auch aus aller Welt anreisen) ausgegeben. Das entspricht ziemlich genau 2 Bechern pro Teilnehmer und Station, erscheint also einigermaßen plausibel.


Pünktlich ab km 32, wo es auf der Willis Ave-Bridge über den Harlem River hinüber in die Bronx geht, ist der Ofen aus, und meine pace fällt von bis dahin konstant unter 4:30 auf über 4:45min/km. Zunächst ... Über die Madison Ave-Bridge geht es bald zurück nach Harlem, wo am Marcus Garvey Park die für mich beste Band, schön mollige schwarze hip hop girls, abtanzt und mir noch mal Energie für die nächste Meile injiziert. An die hundert Kapellen sollen angeblich insgesamt offiziell aufspielen. Somit besteht der Kurs eigentlich rechnerisch aus nichts anderem als Getränkestationen (jeweils ca. 100m lang) und Live-Musik dazwischen. Kommt hin.

km 38.5 - Central Park
Ich wusste, was mich zum krönenden Abschluss noch erwartet: Auf der 5th Ave südwärts, östlich entlang des Central Parks geht es nochmal 50 Höhenmeter bergauf. Aber da kommt ja heute der fette Rückenwind! Denke ich. Pustekuchen! Die Wolkenkratzer (andere Häuser gibt es hier nicht) führen wohl zu starken Verwirbelungen, letztlich herrscht hier im Durchschnitt eher Gegenwind! Dafür kommt etwas anderes, diesmal wirklich von hinten: Zuerst der 3:10er-Pacer (hä, wieso bin ich vor dem?), nicht allzu viel später auch der 3:15er. Oha, das ist die gefühlte Höchststrafe. Auch nach dem Abbiegen in den Park bleibt es bis ins Ziel ziemlich wellig. Meine aktuelle Pace fällt weiter auf 5:15 (incl. einiger kurzer Gehpausen), gefühlt waren es eher 6:30... Da können auch die wirklich fantastischen Anfeuerungen kaum noch helfen. Die gute Nachricht in der schlechten: Inzwischen kann ich solch einen Absturz frühzeitig diagnostizieren, einordnen und daher immerhin trotzdem noch einigermaßen würdevoll finishen. 3km-Wanderungen am Ende eines Marathons gehören jedenfalls offenbar (toitoitoi) definitiv der Vergangenheit an.

Der letzte Kilometer. Vom Columbus Circle an der Südwest-Ecke des Central Parks ein letztes Mal nach Norden drehen, auf jeden Fall gegen den Wind. Die Sonne scheint. Den Abschnitt kenne ich. Es ist nicht mehr weit. Wehmütig bin ich hier 2012 langgeschlendert, nachdem das Rennen äußerst kurzfristig abgesagt worden war. Diesmal rette ich mich ins Ziel, das keine 50m weiter hinten hätte stehen dürfen. NYC Marathon - I got you on!

Es ist ein Weltrekordlauf (bis auf die Siegerzeit): 50.530 Läufer, darunter genau 30.108 Männer und 20.422 Frauen (satte 40,4%!), erreichen die Ziellinie. Nie waren es irgendwo mehr, nicht einmal in New York selbst. 78% aller Teilnehmer laufen hier heute ihren ersten Marathon. Das ist ziemlich unfassbar. Gänzlich unglaublich ist die Finisher-Quote, gerade angesichts eines solch hohen Anteils an Novizen: 99,3% der 50.869 Gestarteten schaffen die 42,2km (und +/-380 Höhenmetern) in durchschnittlich 4:34:45h! - Ich komme als 2.101. dieser 50.530 nach 3:17:14h ins Ziel und bin damit der 51. von insgesamt 1.870 Deutschen.


Was jetzt folgt, ist etwas, worüber man öffentlich vielleicht nicht so gerne spricht. Ich meine jetzt nicht die superfreundlichen und natürlich zahlreichen Volunteers, die den Finishern ein heat sheet umlegen und es liebevoll mit Klebestreifen vor dem Wegfliegen sichern. Die sie nett, aber bestimmt davon abhalten, stehen zu bleiben und die Strecke für die Tausende nachfolgenden Läufer zu verstopfen. Erst recht nicht das strahlende Girl, das mir die supergeile Medaille um den Hals hängt. Auch nicht die Profi-Fotografen, die mich willenlosen Zombie vor eine Motto-Wand zerren. Sure, I still can smile! Nein, ich meine die 1000 oder 1500 m danach, auf dem Weg zum baggage truck, wo es mir plötzlich so mies geht in den nassen Klamotten in diesem eiskalten Wind, dass ich mich am liebsten sofort in ein geheiztes medical car fallen lassen würde. Oh Gott, sie haben die trucks schön der Reihe nach nach Startnummern sortiert geparkt - beginnend mit 72000. Ways to walk. Ich kann nicht mehr. Spotter erkennen meinen Zustand. Ich kriege Geleitschutz. Ich muss auch nicht in die line vor meinem truck, das macht ein Volunteer für mich. Sie sind so großartig. Wenn ich noch mal nach NY komme, dann als Volunteer. Versprochen (ok, auf jeden Fall irgendwann mal als Volunteer, sollte ich doch vorher noch mal laufen).

Dann habe ich mein baggage bag in der Hand, dazu den finisher-Beutel. Essen oder Trinken kann ich aber nichts. Umziehen in dieser Kälte erst recht nicht. Ich taumle weiter. An der 86th St werde ich auf die 8th Ave (Central Park West) hinausbefördert. Immer noch kein öffentlich zugänglicher Bereich. Keine Metro in Sicht, kein windgeschütztes Plätzchen zum Umziehen. Ich gehe nach Süden, der Sonne und dem Ausgang entgegen. Nach einiger Zeit vermischen wir "baggage bag"-Leute uns mit den "no baggage"-Leuten. Zwischen diesen beiden Varianten konnte man vorab (vor Monaten!) wählen. Die "no baggage"-Leute erhalten im Ziel einen knielangen, gefütterten Wärme-Poncho und verwandeln sich mit den übergezogenen Kapuzen in eine endlose Kolonie blauer Pinguine. Ich bin versucht zu sagen: "Das mache ich das nächste Mal auch!" Aber es dürfte wohl (so schnell) kein nächstes Mal geben.

Schon recht bald geht es mir wieder besser. Auch das keine ganz neue Erfahrung. Ich ziehe die Windjacke und eine lange Hose an. Durchatmen. Subway! Da unten ist es vor allem eines: Warm! Dass mich jetzt in den trains Tokyo'ter Verhältnisse erwarten werden - geschenkt! Da kann man wenigstens nicht umfallen. Am Lincoln Center geht es in die "1". Es ist tatsächlich wie vorab in Berichten gelesen: Allgegenwärtige Ehrfurcht vor den finishern, die entweder am Poncho, am heat sheet oder an der Medaille, vor allem aber an ihrer Fortbewegungsart leicht zu erkennen sind, lässt die "normalen" Fahrgäste von ihren Sitzen aufspringen und in überschwängliche Belobigungen verfallen. "How long is a marathon run?"  "26.2 miles." "You're kidding!"

Ziemlich genau 11 Stunden nachdem ich es verlassen habe, bin ich zurück im Hotel, das kaum 20km vom Start und ca. 5km vom Ziel entfernt liegt. Knapp 3,5h davon bin ich gelaufen. Dies verdeutlicht vielleicht am eingängigsten die ganz besonderen Umstände beim New York City Marathon, dem größten, aber bestimmt nicht einfachsten Marathon der Welt.


Mo 03.11.: DON'T RUN !
Guten Morgen! Dies ist der Tag eins in einer neuen Zeitrechnung. Ich bin jetzt ein New York City Marathon Finisher, und ich muss nicht erst nach der Medaille suchen, um mich zu vergewissern, dass das auch wirklich so ist. Wunderbar! Es gibt nichts mehr zu tun, als diese Stadt jetzt noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Natürlich hauptsächlich dort, wo ich 2012 mangels U-Bahn nicht hinkommen konnte. Ich kann erst jetzt annähernd ermessen, was es für die New Yorker bedeutet haben muss, als nach "super storm Sandy" zunächst das komplette subway-Netz, und später teilweise noch monatelang diverse Linien ausfielen: Herz-Infarkt!

Die New York Subway. Bestimmt ein Thema für sich. Es ist laut, es ist muffig warm, und es ist zunächst einmal - schön! Die meisten Stationen in Manhattan haben einen per Aushang benannten station manager, und es scheint ein Wettkampf unter diesen zu bestehen, wer die sauberste, originellste, hübscheste Station leitet. Es fängt bei der Beschilderung an: Wandmosaike aus wenigen Millimeter großen Einzelsteinchen formen die Schriftzüge. Nicht eins pro Station, sondern Dutzende. Denn die Stationen sind weit über hundert Meter lang, so wie die Züge. Nicht selten gibt es weitere Mosaike der unterschiedlichsten thematischen Bezüge, wobei eine Station immer durch ein Hauptthema geklammert wird, z.B. "Tiere" oder "freie Phantasie". Da gibt es garantiert ganze Bildbände drüber. Das hab ich aber nicht recherchiert. Es stach mir nur ins Auge und ich fand es einfach toll.
Nicht wenige Zeitgenossen (neben den Putz- und Bau-Kolonnen) scheinen im Untergrund zu leben. Bettler, Musikanten, Schuhputzer - sie alle nehmen die unschätzbaren Vorteile gerne an - es ist trocken und warm. Woher diese Hitze eigentlich kommt, bleibt mir allerdings ein Rätsel. Erdwärme? Hat man einmal mittels einer MetroCard durch eine Stations-Schleuse einen Bahnhof betreten, kann man sich im Gesamtsystem wohl so lange aufhalten, wie man will und beliebig oft zwischen den Linien und Bahnhöfen wechseln, bis man sich wieder durch ein Drehkreuz in die Oberwelt begibt.
Die Sauberkeit, egal ob auf den Bahnsteigen oder in den Zügen, hat ein unglaublich hohes Niveau, gemessen am Betrieb, der herrscht. Nicht unbedingt, weil die Fahrgäste nichts fallen lassen, sondern eher, weil ständig jemand mit Besen und Schaufel unterwegs ist. Nicht zuletzt bemerkenswert: die Wegweisung generell, die ist genial und idiotensicher. Du musst keine Ahnung von New York haben, nur wissen, dass downtown im Süden, uptown im Norden, Queens im Nordosten und Brooklyn im Südosten von Manhattan ist. Dann kannst du irgendwo in die Unterwelt eintreten und kommst auch beim Umsteigen, das oft das Wechseln mehrerer Ebenen und Laufrichtungen umfasst, nicht durcheinander, vorausgesetzt, du hast einen Linienplan in der Tasche (oder auf dem display). Denn die Grundregel der Wegweisung, dass eine einmal aufgeführte Zielangabe bei jeder möglichen Verzweigung immer wieder eindeutig wiederholt wird, bis du am Ziel, sprich am richtigen Bahnsteig bist, wird nach meiner Beobachtung nie verletzt, auch wenn dadurch alle 3 Meter ein Schild nötig wird (ganz im Gegensatz dazu stehen z.B. die Wegweiser an deutschen Fernradwegen, bei denen man sich darauf verlassen kann, irgendwann im Nirwana zu enden). Das Ganze passiert ohne jeden Text, nur durch Pfeile, Farben, und die Buchstaben und Zahlen der subway-Linien. Beeindruckend!

Aber die Metro ist ja nun nicht nur dazu da, ihre Bahnhöfe zu bestaunen und sich besonders anspruchsvolle Umsteige-Szenarien auszudenken, man kann ja auch wirklich mit den Zügen fahren. Alle Waggons sind ganz aluminium-farben, jeder trägt eine große, eindeutige, vierstellige Nummer, und direkt darunter pranken natürlich die stars & stripes. Sitzplätze gibt es nur recht wenige, alle an den Außenwänden längs zur Fahrtrichtung angeordnet. Es sind (in den allermeisten, älteren Waggons) Reihen von Einzelsitzen, die jeweils eine leichte Sitzvertiefung aufweisen, sodass insgesamt gewissermaßen ein Berg- und Tal-Relief entsteht - die Täler sind die Sitzmulden, die Berge sind die aneinanderstoßenden Ränder zweier Sitze. Die New Yorker, wie ich sie erlebt habe, erfüllen nun i.d.R. keinesfalls das Klischee der "fetten Amis" - ganz im Gegenteil. Dennoch ist die Sitzbreite alles andere als üppig bemessen. Kein Problem, so lange immer ein Platz zwischen zwei Leuten frei bleiben kann. Wird es voller, geht die Sitzordnung nur im Notfall dazu über, jeden einzelnen Platz zu besetzen, denn das bedeutet unweigerlich Körperkontakt. Nein - erstmal werden alle 1,5 Plätze belegt, d.h. jeder 2. sitzt dann auf dem Höcker aus zwei erhöhten Sitzrändern. Nicht sehr bequem, ich habe es ausprobiert! Insgesamt macht diese Beobachtung mir die Leute ganz sympathisch - die Einhaltung einer gesunden Fluchtdistanz ist doch eigentlich auch genetisch definiert. Das "Problem" wurde offenbar erkannt - in den "moderneren" Waggons sind die Sitzbänke ungegliedert und eben, die Anzahl der Sitzplätze also nicht vorbestimmt.

Die trains sind immer gut ausgelastet. Im Regelfall muss man stehen. Das bietet Gelegenheit, die Leute bei ihrer absolut dominierenden Betätigung zu studieren, nämlich auf dem smartphone rumzuwischen. Ohne Übertreibung, ich habe das mehrfach sogar abgezählt, 90% haben das Ding in der Hand und die Mehrzahl von diesen wiederum zusätzlich einen Knopf im Ohr. Zeitung liest im Normalfall keiner. Unterhaltungen sind die absolute Ausnahme. Ich spähe auf die displays. Was treiben die da? Erschreckend! Die Mehrzahl textet nicht oder so, sondern spielt irgendwelche Kinderspiele und sortiert bunte Luftballons. Puh! Mein Gott, was haben die Leute vor 5 oder 7 Jahren gemacht? Auf jeden Fall etwas anderes. Wie kann eine Erfindung so dermaßen durchschlagen und wirklich das Verhalten von ganzen Gesellschaften in NullKommaNichts verändern?

Mein Tagesprogramm fängt an und mit der Brooklyn Bridge an, die im Süden Manhattans über den East River nach Brooklyn führt. Die hängt ja zufällig in Postergröße zu Hause über meinem Bett. Allerdings mit einem kleinen Fehler: Dort stehen noch die Twin Towers des ehemaligen World Trade Centers (WTC) im Hintergrund. Wie sieht es da jetzt wirklich aus?

Phantastischerweise gibt es einen kombinierten Rad-/Fußweg über die Brücke, noch dazu in einem Niveau oberhalb der Fahrbahnen, sozusagen auf dem Stahlgitterkäfig, der den Korpus der eigentlichen Brücke ausmacht. Die Brooklyn-Bridge war nach ihrer Fertigstellung 1883 die längste Brücke ihrer Art weltweit und unter einigen Aspekten technisches Neuland. Heute eignet sie sich vorzüglich, diese auch mit menschlichen Sinnen noch ansatzweise nachvollziehbare Technik aus nächster Nähe zu studieren. 2 Stütz-Pfeiler, 4 körperdicke Tragkabel, die darüber laufen, und unzählige an diesen befestigte, etwa daumendicke vertikale Fahrbahn-Tragkabel. Und man hat natürlich eine unvergleichliche Aussicht auf Lower Manhattan. Ein Turm sticht heraus: Es ist das neue One, World Trade Center.

Da pilgere ich als nächstes hin. Ja, es ist tatsächlich so etwas wie eine Pilgerfahrt zu einem zweifelsohne denkwürdigen Ort der Menschheitsgeschichte. Die ehemaligen Grundrisse, die "footprints" der beiden eingestürzten Türme hat man als Zentrum eines Memorials gestaltet, ergänzt durch ein 9/11-Museum, welches im Wesentlichen unterirdisch liegt. Für das gesamte Setting gab es im Rahmen einer Ausschreibung mehr als 5200 Einreichungen aus aller Welt. Realisiert hat man etwas vergleichsweise Einfaches, Überschaubares - und daher sehr Ergreifendes.

Über die jeweils vier Flanken der beiden Rechtecke, die die ehemaligen Positionen der beiden Türme umreißen, strömt ein ununterbrochener Wasserschleier über 9m hohe Kanten eine Ebene tiefer, um dort einer weiteren, zentralen, kleineren Vertiefung zuzustreben, deren Grund von keinem Beobachtungspunkt auszumachen ist und in die es von daher quasi bodenlos fällt. Ein ständiges Fließen und Absinken nach unten dominiert also die Betrachtung, was zwangsläufig an den Moment des finalen Zusammenstürzens der Türme erinnert. So jedenfalls mein Empfinden.
In die Umrandungen der beiden footprints sind in eine zentimeterdicke Bronze-Platte die Namen aller knapp 3000 Opfer eingefräst, geordnet nach Firmenzugehörigkeiten, Arbeitsgruppen, Feuerwehr- und Polizei-Einheiten etc. An jedem Tag des Jahres wird in die Namen der jeweiligen Geburtstagskinder eine weiße Rose gesteckt.

Dieser Ort ist nicht zuletzt ein Sieg des Innehaltens und Gedenkens über den Kommerz, und allein deswegen glaubwürdig. Der potentielle wirtschaftliche Wert der auf diese Weise "brachliegenden" Fläche von 32.000m² ist kaum zu beziffern und mit Sicherheit auf Weltrekord-Niveau. Typische Makler-Angebote für 1- oder 2-bedroom-Appartements in Manhattan belaufen sich auf über $3.000 pro Monat. Das "neue" World Trade Center wird um die Freifläche des Memorials herum entwickelt und soll am Ende 4 markante Türme umfassen. Der erste davon ist fertig, und nimmt einem genau wie das Memorial selbst den Atem. Nicht allein aufgrund seiner Höhe von symbolträchtigen 1776 Fuß (540m), sondern vor allem durch sein Design, das durch zwei über die Vertikale gegeneinander verdrehte quadratische Querschnitte charakterisiert ist, das aus gewissen Blickwinkeln nichts als ein Dreieck sichtbar werden lässt. Genial!




Südspitze Manhattans mit 1, WTC, von Staten Island aus
Das eigentliche Ausmaß dieses Turms, der in nicht allzu ferner Zukunft bereits durch einen fast fertigen Neubau an der Park Avenue übertroffen werden wird (und damit den Gang aller bisherigen "höchsten Gebäude der Welt" in NYC, wie zuvor z.B. Woolworth Building und Empire State Building gehen wird), erschließt sich nur aus größerer Entfernung, z.B. beim Blick von Staten Island oder gar vom J.F.K. Airport. Erst dann wird klar, dass er (zusammen mit dem Empire State Building) in ein ganz eigenes Stockwerk vorstößt, zumal um ihn herum ja nun alles andere als Bungalows stehen.

Ein Gedanke, der mich angesichts der massiven Wand aus Wolkenkratzern, die Manhattan gerade bei einer Betrachtung vom Wasser aus ausmacht, immer wieder beschleicht, ist die Vorstellung, dass das ganze Ensemble im nächsten Moment im Boden versinken könnte, so massiv wirkt die Bebauung, die quasi auf dem Meeresspiegel aufzusetzen scheint. Aber das ist wohl wenig wahrscheinlich - Manhattan ist eine massive Felseninsel, was sich einem allerdings nur an einigen Stellen im Central Park direkt erschließt.

Dass man eigentlich auf einer Marathon-Reise unterwegs ist, kann man auf keinen Fall vergessen, zu viele Leute sind überall in der Stadt in den Finisher-Shirts unterwegs und/oder haben ihre Medaillen umhängen. Ich mache mich am späten Nachmittag noch einmal auf den Weg zur Finish Line im Central Park, um noch etwas die Nachwehen aufzusaugen. Diese Idee bzw. dieses Bedürfnis haben unzählige andere wohl auch. Obwohl die Abbauarbeiten am Zieltor und den Tribünen im vollen Gang sind, gibt es noch viele Gelegenheiten, sich vor Motto-Wänden und Bannern fotografieren zu lassen - nachdem man entsprechende Schlangen absolviert hat. Die längste, für mich keinesfalls freiwillig tolerable line bildet sich vor dem Festzelt, in dem man seine Medaille für bescheidene $25 mit der Zielzeit gravieren lassen kann. Immer noch viele freundliche Volunteers, die einem alles erklären. Wunderbares Licht dann beim Sonnenuntergang im von schlichtweg beeindruckenden, aus sehr verschiedenen Bau-Epochen stammenden Wolkenkratzern umrahmten herbstlich bunten Park. Ich stehe im T-Shirt da und kann mir bei 18° (und fast Windstille) beim besten Willen kaum noch vorstellen, wie sehr ich hier gestern gefroren habe.


Di 04.11.: RUN ?
Erfahrungsgemäß ist Tag 2 nach einem Marathon immer derjenige von den beiden ersten, an dem es einem bescheidener geht. Das Adrenalin ist endgültig weg, die wahren Körpersignale haben wieder Chance auf Gehör. In diesem konkreten Fall macht sich zusätzlich der aufsummierte Schlafmangel bemerkbar. Aber erst im Laufe des Tages.
Am Morgen, der wieder genau so strahlend ist wie der gestrige, nur noch etwas milder, kann mich noch nichts davon abhalten, einen kleinen Regenerationslauf zu starten, natürlich ganz stylisch direkt ab Hoteltür. Es geht einmal quer rüber nach Westen zum Ufer des Hudson (ca. 20 Ampeln), direkt am Madison Square Garden vorbei, um an der 34th St, ziemlich genau bei der Expo, neben der Penn Station den Einstieg in den Highline Park zu finden. Das ist eine umgebaute ehemalige Hochbahnstrecke, die bis hinunter über die 14th hinaus durch Chelsea führt und früher die Schlachthöfe im Meat Packing District anband. Ich muss nicht erwähnen, dass jeder 2. Jogger, der mir entgegenkommt oder den ich überhole, das blaue NYC Marathon-Shirt trägt.
Neben wieder einmal unglaublich vielen Angestellten, die die im ehemaligen Schotterbett angebauten Pflänzchen hegen und pflegen, bleibt mir vor allem das Bild einer einzigen durchgehenden Großbaustelle haften, auf die ich aus der 2. Etage herab- aber natürlich auch hinaufblicke. Es ist phänomenal, was hier gebuddelt und hochgezogen wird - in einem Areal, das natürlich schon seit 100 Jahren flächendeckend bebaut ist. Hier tut sich in 2 Jahren richtig was, wie ich nach der Rückkehr an einigen Vergleichsaufnahmen feststellen kann (natürlich war das neue WTC 2012 noch nicht fertig, und das werdende 432, Park Ave, dieser beängstigend dünne Bleistift, der 1, WTC jetzt schon überragt, war überhaupt noch nicht auszumachen).

Nach 10km wieder zurück im Hotel stelle ich fest, dass ich jetzt eigentlich zum ersten Mal bei hellem Tageslicht im Zimmer verweile - aber das ist stockdunkel, trotz normal großem Fenster und Sonnenschein. Die Erklärung dafür ist einfach: die benachbarte Hauswand hat einen Abstand von ca. 30cm und ist dunkelgrau verputzt. Da beide Gebäude noch etliche weitere Stockwerke nach oben aufragen, kommt hier nie ein Lichtschimmer an. Ich denke, so wohnen viele in Manhattan - dauerhaft, und nicht nur 5 Tage.

Frühstück! Auf geht's zu Fresh&Co., das man inzwischen mein Stammlokal nennen darf. Die Speisekarte umfasst vegetarische, vegane, glutenfreie, laktosefreie Gerichte. Ein Laden mit Anspruch: local produce! Save the planet!, usw. Das Essen ist auch wirklich gut, natürlich nicht gerade billig. Dennoch geht ein Bruch durch das Ganze: Es ist gleichgültig, ob Du to go oder to stay bestellst (was ich beides ausprobiere): Du wirst in beiden Fällen dieselben, aufwändigen Plastik-Einweg-Schüsseln mit Deckel (!) für den Salat bekommen (die fast Tupper-Qualität haben), denselben isolierten Pappbecher für den frisch gepressten O-Saft, dasselbe Plastik-Besteck (mit dem Messer kann man Äste absägen!) und den gleichen Berg Servietten. Es ist ganz einfach (und natürlich nicht auf diesen Laden beschränkt): Es gibt schlicht kein Porzellan und kein Metall-Besteck für den Verzehr im Lokal, ich habe in 5 Tagen keins gesehen (war aber natürlich auch nie in einem "echten" Restaurant).
Wenn ich eine Woche nach der Rückkehr höre, die US fangen jetzt zusammen mit China den Klimaschutz an, kann ich nur sagen: Allerhöchste Eisenbahn (und viel Glück), denn die absolute Mehrheit konsumiert in diesen Läden (ich weiß gar nicht, wie ich die nennen soll  - es ist mehr als ein Café und eben kein Restaurant, aber es gibt breakfast, lunch und diner in riesiger Auswahl, i.d.R. auch mit eigenem online-orders-pickup-Bereich)! Müllberge? Exorbitant! Mülltrennung? In 90% der Fälle nicht vorgesehen. Müllvermeidung? Vielleicht ein Geschäftsfeld, mit dem man "drüben" noch richtig was werden kann.


Mi 05.11.: BACK TO NORMAL

Was bleibt? Es ist nicht alles schlecht, nein - beileibe nicht alles: An jeder Ecke gibt es einen CityBike-Stand. Wahrscheinlich hat das einen ganz einfachen Grund (2012 hab ich die noch nirgends gesehen): Man lernt - sehr schnell sogar, wenn es drauf ankommt. Keiner braucht ein Auto in Manhattan bei $800 monatlicher Parkgebühr. Keiner braucht ein 5kg schweres Fahrradschloss, das trotzdem nicht verhindert, dass sie dir die Nabe aus dem Laufrad schneiden. Keiner braucht ein Taxi, das im Wesentlichen im Stau steht und vor sich hin hupt. Keiner braucht in Manhattan einen Trailschuh - und deswegen kann ich ihn dort auch nicht kaufen, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Unterschätzen wir sie nicht, die - unter dem Strich - für mich auf jeden Fall liebenswerten "Amerikaner", die ja doch nichts sind als ein eventuell überdurchschnittlich mutiger Extrakt der Weltbevölkerung.
Und die es schaffen, den New York City Marathon zu veranstalten. Eine Idee, auf die kein normaler Mensch kommt. Aber sie als erste.


Dann endlich doch noch: BAHNSTREIK!! Ich bin wieder zu Hause.